ETH-Chef Lino Guzzella über die Zusammenarbeit der Schweizer Hochschulen
«Wir sind zur Nummer 1 verdammt»

ETH-Präsident Lino Guzzella ist zufrieden mit der vorgeschlagenen Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative. Noch könne der Forschungsplatz Schweiz aber nicht aufatmen.
Publiziert: 17.09.2016 um 21:48 Uhr
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Aktualisiert: 28.09.2018 um 17:37 Uhr
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Lino Guzzella, ETH-Präsident, zur Zukunft des Forschungsplatzes Schweiz.
Foto: Joseph Khakshouri
Interview Sermîn Faki und Moritz Kaufmann

Herr Guzzella, der Vorschlag zur Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative sieht einen sehr leichten Inländervorrang vor. Sind Sie aus Sicht des Forschungsplatzes zufrieden?

Nach all den Monaten bin ich vor allem dankbar, dass endlich etwas auf dem Tisch liegt. Der Forschungsplatz Schweiz braucht unbedingt eine Lösung, die mit dem Forschungsprogramm Horizon 2020 kompatibel ist. Ich habe den Eindruck, dass der Vorschlag in diese Richtung geht.

Was ist eigentlich so wichtig an Horizon 2020? Wir sind reich genug, unsere Forschung selbst zu fördern.

Die EU-Förderung von Forschungsprojekten ist nur ein Teil von Horizon 2020. Das andere ist die Personenförderung. Leute, die bewiesen haben, dass sie riesiges Potenzial haben, kommen so zu grosszügigen Stipendien. Das sind Mini-Nobelpreise. Die Erfahrung zeigt, dass mit diesen Geldern echte wissenschaftliche Durchbrüche erreicht werden. Die Schweiz ist hier am erfolgreichsten.

Aber brauchen wir die EU dazu? Haben wir nicht genug Geld, diese Leute selbst zu fördern?

Doch, das haben wir. Aber das ist nicht der Punkt. In einem Schweizer Programm wäre der Wettbewerb der Köpfe auf unser Land beschränkt. Mit Horizon 2020 spielen wir auf der internationalen Ebene. Es ist wie im Fussball: Ohne dem FC Basel zu nahe treten zu wollen – Schweizer Meister ist halt nicht das gleiche wir Champions-League-Sieger. In der Wissenschaft ist es genauso: Die klügsten Köpfe gehen an eine Uni, die in der Champions-League spielt. Wenn wir auch in Zukunft zu den zehn weltbesten Unis gehören wollen, müssen wir dort tschutten.

Auch den Briten, die neben der ETH und EPFL in Lausanne in Europa Spitzenklasse sind, droht mit dem Brexit der Rauswurf aus Horizon 2020. Kann man sich nicht zu einer eigenen Forschungs-Champions-League zusammenschliessen?

Wenn mittelfristig keine Lösung gefunden wird, werden wir darüber nachdenken müssen. Aber mit Horizon 2020 haben wir ein System, das funktioniert und weltweit anerkannt ist. Bis wir etwas Ähnliches auf die Beine stellen können, vergehen Jahrzehnte. Und bis dahin gehen die besten Leute eben woanders hin.

Wie optimistisch sind Sie, dass jetzt der Zugang zu Horizon 2020 gesichert werden kann?

Das ist leider überhaupt nicht sicher, denn dafür muss das Kroatien-Protokoll unterzeichnet werden. Ich appelliere an die Politik, eine pragmatische Lösung zu suchen. Bildung und Forschung – das würden sicher die meisten Schweizerinnen und Schweizer unterschreiben – sind für den Wohlstand in unserem Land von zentraler Bedeutung.

Sie wollen die besten Köpfe. Ein Grossteil der Schweizer will weniger Zuwanderung.

Ich habe Verständnis für Leute, die die starke Zuwanderung beunruhigt hat. Doch wir sollten nicht vergessen, woher unser Wohlstand kommt. Die Schweiz hat immer davon gelebt, dass hochtalentierte und motivierte Menschen zu uns kamen. Ich kann Ihnen dutzende Ausländer nennen, die unsere Uhren-, Nahrungsmittel- und Elektroindustrie aufgebaut haben. Denken Sie an Nestlé, das von einem deutschen Einwanderer gegründet wurde.

Sie engagieren sich im Wirtschaftsverband Economiesuisse. Haben die Hochschulen und die Wirtschaft wirklich die gleichen Interessen?

Die gleichen Anliegen haben wir nicht. Aber die Schweiz funktioniert nur, wenn wir weltweit unter den Top 3 sind. Unsere Löhne sind zu hoch, um Nummer 37 zu sein! Denn Nummer 36 ist günstiger als wir. Weil unsere Produkte die teuersten sind, können wir sie nur verkaufen, wenn sie die besten sind: die beste Uhr, die beste Maschine, das beste Medikament: Wir sind sozusagen zur Nummer 1 verdammt. Diese Spitzenposition können wir nur halten, wenn alle eng zusammenarbeiten: Politik, Wirtschaft, Forschung und Gesellschaft.

Gibt es einen Graben zwischen jenen, die sich als Teil der Globalisierung sehen, und anderen, die immer mehr zum Verteidigungsbollwerk gegen jeglichen Wandel werden?

Es gibt in der Schweiz zwei Lager: Die einen wollen mehr Innovation, die anderen fürchten sich davor. Ich denke, das liegt an der Geschwindigkeit der Veränderungen. Der technische Fortschritt geht heute so schnell wie noch nie in der Menschheitsgeschichte. Auch früher gab es riesige Umwälzungen, aber die Menschen hatten 20, 30 Jahre Zeit, sich anzupassen. Heute verschwinden bestimmte Geschäftsmodelle schon nach drei, vier Jahren. Dass viele damit Mühe haben, kann ich gut verstehen.

Die ETH steht international im Wettbewerb der Forschung. Stimmen für Sie die Rahmenbedingungen in der Schweiz noch?

Sie sind immer noch hervorragend. Warum hat Google sein weltweit drittgrösstes Forschungslabor hier in Zürich? Wegen der ETH und der Street Parade! Die ETH steht für die Wissenschaft und die Street Parade für die grossartige Lebensqualität. Wir haben Stabilität in Politik und Sozialsystem, ein vernünftiges Steuersystem und eine intakte Natur.

Wo kann man die Rahmenbedingungen noch verbessern?

Nachholbedarf haben wir in unserer Fehlerkultur. Noch immer ist Scheitern bei uns etwas Anrüchiges. Deshalb haben Schweizer die Tendenz, zu vorsichtig zu sein. Ich finde, wir sollten etwas risikofreudiger werden. Nehmen wir uns ein Vorbild am Mut unserer Vorfahren: Wäre der Bundesstaat mit unserer Vollkasko-Mentalität je gegründet worden? Und die ETH? Ich bin skeptisch, dass wir die nationale Einheit und den Mut dazu hätten.

Wo müssen wir heute Mut beweisen?

Die grösste Herausforderung ist, offen für die Welt zu bleiben und die Leistungsbereitschaft hochzuhalten. Vom Tellerwäscher zum Millionär – das ist für mich nicht der amerikanische, sondern der Schweizer Traum.

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