Essay zur Regierungskrise in Wien
Land der Extreme

Österreichs Politik bewegt sich nicht gemächlich wie der Donauwalzer, sondern stürmisch wie der Radetzkymarsch.
Publiziert: 19.05.2019 um 12:42 Uhr
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Aktualisiert: 24.01.2024 um 00:04 Uhr
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Österreicher demonstrierten am Samstag in Wien gegen Straches FPÖ.
Foto: imago images / photonews.at
Reza Rafi

Klar, geografisch gesehen ist Österreich unser Nachbar. Gesellschaftlich aber erscheint die Alpenrepublik als entferntes, exotisches Land. Offensichtlicher als in der letzten 
Woche könnte der Unterschied gar nicht sein: Während in der Eidgenossenschaft bereits ein unglücklicher CNN-Auftritt des Bundespräsidenten für nationale Unruhe sorgt, bricht in Österreich ein Politskandal der Extraklasse aus.

Die falsche Nichte eines russischen Oligarchen, alkoholgeschwängerte Machtmissbrauchsfantasien von HC Strache, Käuflichkeit, Journalisten als Huren, angebliche Sexorgien des Kanzlers, vielleicht auch Koks. Irritierende Fantasien des FPÖ-Chefs jedenfalls. Die Realität schlägt die Fiktion. Das Kabinett Kurz am Ende.

In der fernen Schweiz denkt man sich: Was macht dieses 
Österreich, dieses Land unter der «nationalsozialistisch-katholischen Sonne», wie Schriftsteller Thomas Bernhard in seinem Roman «Auslöschung» sagt, so anders? Dort hat man schliesslich einen ähnlichen Lebensstandard, redet deutsch und fährt Ski. Und Österreicherwitze sind ohnehin passé, seit die Schweizer ihre Winterferien lieber jenseits der Grenze verbringen.

Österreicher haben das Burgtheater, wir den Prix Walo

Kulturell sind uns die Ösis haushoch überlegen – nicht nur Bernhard, auch Künstler wie Manfred Deix und Ulrich Seidl schufen mit bitterbösem Blick 
auf ihre Landsleute Werke von Weltrang. Von Mozart, Schubert, Musil und Klimt wollen wir gar nicht erst reden! Die Österreicher haben das Burgtheater, wir den Prix Walo.

Ihr Land ist ein Land der Extreme. Auch politisch. Nicht wenige Alte sehen ihre Nation bis heute als erstes Opfer der Nazis, Burschenschaften haben dort noch etwas mehr Braunstich als anderswo, und in den Weiten des 
österreichischen rechten Spek-trums reihen sich Skandälchen 
aneinander, von denen jedes einzelne in Deutschland ein Erd­beben auslösen würde. Am Na-
tionalfeiertag wird nicht etwa der Sieg über die NS-Diktatur gefeiert, sondern der Abzug der alliierten Befreier. Kann man machen.

In 
Österreich ändern sich Dinge mit einem Knall

Im Jahr 2000 kam mit Jörg 
Haider ein Saddam-Hussein-Sympathisant in die Regierung. Ein Österreicher als Pionier des Rechtspopulismus. Die damalige Schmähung durch Resteuropa wirkt heute, angesichts der Orbans, Kaczynskis und Salvinis unverständlich. Nur die Schweiz zeigte Gnade und lud Kanzler Wolfgang Schüssel nach Bern 
ein. Unverstanden fühlen sich 
die Österreicher sowieso: 1683 haben sie Europa vor den Osmanen gerettet, 2015 halfen sie den Flüchtlingsstrom zu stoppen, und niemand sagt Danke!

Christoph Blochers SVP stieg allmählich, organisch zur grössten Partei der Schweiz auf. In 
Österreich ändern sich die Dinge mit einem Knall. Waldheim-Affäre, Haiders Unfalltod, FPÖ-Spaltung, Silberstein-Skandal, Strache im Tarnanzug: Österreichs Politik bewegt sich nicht gemächlich wie der Donauwalzer, sondern stürmisch wie der Radetzkymarsch.

Für Journalisten und Satiriker ist der Rumpfstaat der ehema­ligen K.-u.- k.-Monarchie ein 
Paradies – oder kann man sich eine Schweizer Aussenministerin vorstellen, die Wladimir Putin zur Hochzeit einlädt und vor ihm 
den Hofknicks macht, wie Karin Kneissl es 2018 tat?

Eben.

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