Aufsehen erregte der Prozess am Bundesstrafgericht in Bellinzona TI schon seit Beginn. Im Schatten der Corona- Krise aber ist er nun völlig aus dem Ruder gelaufen: Die Verhandlungen gegen vier Angeklagte im Zusammenhang mit der Fussball-WM 2006 in Deutschland liegen auf Eis.
Wie der «Tages-Anzeiger» berichtete, befindet sich ein Beschuldigter, der ehemalige DFB-Boss Wolfgang Niersbach (69), wegen Verdacht auf Corona-Infektion in seinem privaten Umfeld in Quarantäne. Der Stopp wurde am Donnerstag beschlossen; für die Ankläger muss der Entscheid ein Schlag in die Magengrube gewesen sein. Denn die Schweizerische Bundesanwaltschaft muss vor dem 27. April ein Urteil erreichen, sonst ist das Delikt verjährt – der lang ersehnte erste Fifa-Prozess von Bundesanwalt Michael Lauber (54) würde als Fiasko enden.
Gerichtspräsidentin Sylvia Frei (62) begründete den Schritt mit Eingaben der Verteidigung, die geprüft werden müssten. Unter welch enormem Druck das Tribunal steht, offenbart der Antrag, den der Anwalt von Horst R. Schmidt (78) am Donnerstag eingereicht hatte. Ex-Fifa-Funktionär Schmidt war 2006 Mitorganisator des «deutschen Sommermärchens» und wird von der Bundesanwaltschaft des Betrugs beschuldigt.
«Für meinen Klienten lebensbedrohlich»
In dem Schreiben, das SonntagsBlick vorliegt, erhebt Schmidt-Verteidiger Nathan Landshut heftigste Vorwürfe gegen das Gericht: Er wirft diesem vor, mit der Hauptverhandlung gegen das Epidemiegesetz und die Notverordnung der Tessiner Regierung zu verstossen. «Die Teilnahme an den Hauptverhandlungen ist für meinen Klienten lebensbedrohlich und unter den gegebenen Umständen nicht zumutbar.»
Tatsächlich ist der Südkanton zum Notstandsgebiet erklärt worden, und der Angeklagte Schmidt gehört aufgrund seines Alters zur Risikogruppe.
Landshut doppelt nach: «Wenn Sie meinen alten und schwer kranken Klienten zwingen, sich für mehrere Wochen in ein Notstandsgebiet zu begeben, verstossen Sie nicht nur gegen das Epidemiegesetz, sondern auch (...) gegen den Grundsatz der Menschenwürde und gegen den Grundsatz des rechtsstaatlichen Strafverfahrens.»
Angeklagte bestreiten Anschuldigungen
Die Behörde von Bundesanwalt Lauber wirft den vier Angeklagten vor, den Entscheid für Deutschland als WM-Austragungsort mit zehn Millionen Franken für einen katarischen Funktionär gekauft zu haben. Alle vier bestreiten die Anschuldigungen.
Für die Richter ist die Situation verzwickt: Brechen sie die Übung ab, machen sie die Schweizer Justiz weltweit zum Gespött – die Einstellung des Verfahrens nach jahrelanger Knochenarbeit der Ermittler wäre hinsichtlich der pendenten Fifa-Fälle ein fatales Zeichen.
Ziehen sie allerdings ungeachtet der Corona-Pandemie den Prozess gegen die Senioren durch, müssen sie sich ebenfalls auf happige Vorwürfe gefasst machen.