Macron Président, Macron Président!» Die Anhänger des Präsidentschaftskandidaten Emmanuel Macron johlen in der Mehrzweckhalle von Châtellerault, einer Provinzstadt mit gut 30’000 Einwohnern, eineinhalb TGV-Stunden südwestlich von Paris. Die rund 1000 Leute im Saal – Bauern, Beamte und Gewerbetreibende – passen nicht so recht zum smarten 39-jährigen Ex-Banker und Absolvent von Eliteschulen.
Aber genau darum ist Macron hier, im ländlichen, gebeutelten Frankreich, wo die Bauern vergeblich um faire Preise für ihre Produkte kämpfen, wo Fabriken schliessen, wo Arbeitsplätze in noch billigere Länder im Osten der EU verlegt werden und wo die Dörfer zuerst den Bahnhof, dann die Post und schliesslich noch das Bistro, die Bäckerei und den Laden verlieren.
Urbane Zentren brachten Macron auf Platz eins
Dieses provinzielle Frankreich hat letzten Sonntag nicht Emmanuel Macron gewählt. Es waren die Stimmen aus den grossen Städten und Agglomerationen, die ihn auf den ersten Platz des ersten Wahlgangs für Frankreichs Präsidentschaft katapultiert haben. Auf dem Land waren die Extremisten stark: Marine Le Pen ganz rechts aussen, Jean-Luc Mélenchon ganz links aussen und François Fillon, der erzkonservative Katholik. Um deren Anhänger muss Macron jetzt buhlen, wenn er in einer Woche gegen Marine Le Pen den zweiten, den entscheidenden Wahlgang gewinnen will.
Das Rennen wird knapp. In den Umfragen verlor Macron seit letztem Sonntag bis zu einem Drittel des Anfangsvorsprungs gegenüber Le Pen. Die jüngsten Zahlen sehen für Macron 59 Prozent Wähleranteil, für Le Pen 41. Während Le Pen zulegt, verliert Macron. Dass ein Teil seiner Gegner aus dem ersten Wahlgang zu seiner Wahl aufgerufen haben, ist verpufft – weil sie nicht ihn zur Wahl empfehlen, sondern eigentlich nur Marine Le Pen verhindern wollen.
Le Pen ist die Hoffnungsträgerin der kleinen Leute
Doch die weichgespülte Rechtsextremistin ist heute für viele Franzosen wählbar. Die rassistischen, antisemitischen und homophoben Ausfälligkeiten ihres Vaters, den sie aus der Partei rausgeschmissen hat, konnten ihr bisher kaum schaden. Nach dem Ausscheiden des linksextremen EU- und Globalisierungsgegners Mélenchon ist Le Pen für die Globalisierungsverlierer und kleinen Leute weitab der Zentren die einzige verbliebene Hoffnungsträgerin.
Darum muss Macron, der elegante Städter mit seinen 600 Euro teuren Anzügen, in der Provinz auf Stimmenfang gehen. Er tut das genau so, wie jeder andere Kandidat es auch täte: mit Versprechungen für alle – Bauern, Behinderte, Gesunde und Kranke, Alte und Junge, Frauen und Männer.
Er tut es jedoch erstaunlich konkret: Mehr Geld und faire Preise für die Landwirte. Keine Schliessung weiterer Dorfschulen. 3G-/4G-Abdeckung und Glasfaserversorgung im ganzen Land innert 18 Monaten. Mehr Gesundheitszentren. Bessere Verkehrsanbindung an die Zentren. Das kostet natürlich alles Geld. Aber Macron verspricht auch: Nein, keine neue Immobiliensteuer. Auch sonst keine Steuererhöhungen. Die Soziallasten für Unternehmen, Gewerbe und Landwirte werden abnehmen.
120’000 Beamte weg
Finanzieren will Macron seine Versprechen mit Einsparungen, zum Beispiel 120’000 weniger Beamtenstellen – ein schmerzhafter Spagat.
Die Anhänger im Saal von Châtellerault wollen es glauben. Darum sind sie da, sie wollen den Heilsbringer persönlich sehen und hören. Schliesslich verspricht Macron, das Land politisch und wirtschaftlich zu renovieren. Die alten Parteien rechts und links haben ausgedient, mit ihnen will Macron nichts zu tun haben. Und wie zum Beweis, dass seine Politik für Rechte und Linke taugt, sitzen ganz vorn im Publikum ehemalige Premierminister: Edith Cresson und Jean-Pierre Raffarin, sie für die Linke, er für die Rechte.
Er hat keine Partei als Hausmacht im Rücken, mit der er die Parlamentswahlen im Juni gewinnen kann. Er hat zwar versprochen, seine eigens für die Präsidentschaftkandidatur gegründete Wahlmaschine En Marche! werde in jedem der 577 Wahlkreise einen Kandidaten oder eine Kandidatin aufstellen. Bis heute sind es bestenfalls zwei Dutzend. So kommen selbst bei glühenden Anhängern Zweifel auf, ob das zu schaffen sei. Und ohne Parlamentsmehrheit kann auch der mächtige Präsident das Land nicht regieren.
«Die Le-Pen-Anhänger sind keine Patrioten»
In Châtellerault ist das kein Thema. Mit der Devise: «Wir sind die Patrioten», will er Marine Le Pen den Wind aus den Segeln nehmen. «Sie», gemeint sind die Le-Pen-Anhänger, «sind keine Patrioten, sie sind Nationalisten.»
Wenn Macron dies in 45 Minuten freier Rede wie ein Volkstribun mit erhobenen Armen und anschwellender Stimme beschwört, wirkt es theatralisch und auswendig gelernt – plötzlich glaubt man den 15-jährigen Gymnasiasten Emmanuel im Schülertheater zu sehen, wo er sich in Brigitte verliebte, seine 24 Jahre ältere Lehrerin. Sie ist heute seine Frau und coacht ihn noch immer.
Gibt das einen Präsidenten Strohfeuer? Viele Franzosen befürchten es und wollen nächsten Sonntag gar nicht erst wählen gehen. Doch je grösser die Enthaltung, desto besser die Wahlchancen für Marine Le Pen.