«Diese Fotos», sagt Elisabeth Kopp (78), «lösen starke Emotionen aus.» Es sind Bilder an der ungarischen Grenze. Stacheldrahtzäune. Kinder, die versuchen, sich hindurchzuschlängeln in Richtung Freiheit. «Hier wird die humanitäre Tradition Europas verletzt», sagt die Frau, die als Bundesrätin in den 80er-Jahren für die Asylpolitik zuständig war.
Es ist dasselbe Ungarn, aus dem vor sechs Jahrzehnten die Menschen Richtung Westeuropa geflohen sind. Damals, 1956, ist Elisabeth Iklé, so ihr Mädchenname, Jus-Studentin in Zürich. Sie sieht diese Bilder vom 23. Oktober 1956, als in der ungarischen Hauptstadt Tausende Studenten für die Freiheit auf die Strasse gehen. Die Regierung lässt auf die Demonstranten schiessen. Über das Radio wenden sich die Ungarn an die freie Welt, fordern den Westen zur Solidarität auf.
In Zürich treffen sich die Studenten. Mittendrin Elisabeth Iklé. Am Abend marschieren 2000 in einem Fackelzug von der Universität ins Stadtzentrum. Eine der Fackelträgerinnen ist Elisabeth Iklé. Ähnliches geschieht auch in St. Gallen, Bern, Genf. Eine gewaltige Solidaritätswelle kommt ins Rollen.
«Diese Erfahrung hat eine ganze Generation politisiert», sagt Elisabeth Kopp heute. Sie selber wird als erste Frau in den Bundesrat gewählt. In Zürich wird auch ein Walter Renschler aktiv, Arbeitersohn und Student der Nationalökonomie – später SP-Nationalrat und oberster Gewerkschafter. Ein anderer ist Peter Arbenz, der unter Bundesrätin Kopp zum ersten Delegierten für das Flüchtlingswesen wird.
Die Studenten sammeln Lebensmittel und Medikamente, sie organisieren Hilfskonvois, die in Richtung Ungarn aufbrechen. Als in Budapest russische Panzer rollen, fliehen die Menschen mit Kinderwagen, Handkarren und Koffern über das österreichische Burgenland in den freien Westen. Die Auffanglager im Grenzgebiet quillen bald über, und der Bundesrat in Bern beschliesst, 2000 ungarische Flüchtlinge aufzunehmen. Bald stockt er dieses Kontingent auf das Doppelte auf. Schliesslich kommen über 10'000 Ungarn in die Schweiz.
Sie brauchen ein Dach über dem Kopf. Fünf Zürcher Studenten, darunter Elisabeth Iklé, überreden einen Hausbesitzer, ihnen das Abbruchobjekt Zum Gelben Schnabel im Herzen der Stadt zu überlassen. Es wird instand gesetzt, und als die ersten ungarischen Studenten ankommen, schwingt Elisabeth Iklé den Kochlöffel.
Warum gab es damals eine solch gewaltige Solidaritätswelle, während sich Europa heute mit den Flüchtlingsströmen so schwertut? Elisabeth Kopp denkt nach: «Damals haben junge Menschen in einem kommunistischen Regime für die Freiheit gekämpft. Das haben wir in der Schweiz verstanden, auch weil die Mehrheit antikommunistisch dachte. Es war absehbar, dass der Flüchtlingsstrom irgendwann versiegen würde.»
Heute seien die Gründe für eine Flucht vielfältig, die Menschen stammten aus einem fremden kulturellen und religiösen Umfeld. Und ein Ende des Elends sei nicht in Sicht.
28 Jahre nach dem Ungarn-Aufstand wird Elisabeth Kopp Bundesrätin, übernimmt das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD). Damit ist sie zuständig für die Flüchtlings- und Asylpolitik. Das Land ist in der Asylfrage tief gespalten. 1987 stimmt das Volk einer Asylrechtsrevision zu. Grenztore, Notstandsklauseln, Ausschaffungshaft bei Fluchtgefahr werden möglich.
Die Linke spricht von einem «menschenrechtsverletzenden Asylgesetz». Diese Dauerkritik einer demokratisch legitimierten Asylpolitik bekommt plötzlich ein Gesicht: Mathieu Musey, zairischer Staatsangehöriger mit Frau und drei Kindern, der bis zum Abschluss der Ausbildung im Land bleiben darf. Als es so weit ist, wollen Museys aber nicht gehen, tauchen ab, werden von der Polizei aufgestöbert und nach Kinshasa ausgeflogen.
Im Land wogt ein Proteststurm. Kopp und ihr Flüchtlingsdelegierter Arbenz, die dem Gesetz Geltung verschaffen müssen, sind einsam.
War Ungarn 1956 das Symbol für solidarische Hilfe, wurde Musey zum Gesicht der linken Kritik am Asylgesetz. Und heute, wo die Flüchtlingsproblematik globale Dimensionen angenommen hat, sind die Nationalstaaten überfordert? Elisabeth Kopp schweigt erneut lange. Dann sagt sie: «Ich weiss nicht, wie das weitergehen soll. Wir können ja nicht den halben Nahen Osten und halb Afrika bei uns aufnehmen. Die Europäer wollen helfen, aber auch ihre Identität bewahren. Der Schlüssel liegt in der Heimat der Flüchtlinge, dort muss geholfen werden, dort müssen die Menschen wieder eine Zukunft haben. Andernfalls wird der Flüchtlingsstrom nie abreissen.»