«In der frühsten Erinnerung an meinen Vater – da war ich etwa drei – erlebte ich ihn als sehr präsent und fürsorglich. Ich war in einem Sportgeschäft gestürzt und hatte mir den Mund blutig geschlagen. Ich sah schrecklich aus, man wusste nicht, ob auch Zähne abgebrochen waren. Als mein Vater nach Hause kam und mich so sah, war er zutiefst erschüttert und erregt. Aber er war da. Und das gab mir ein sicheres Gefühl.
An Sonntagsspaziergänge mit den Eltern kann ich mich nicht erinnern, aber ans Wandern schon. Ich wollte natürlich nicht laufen und hockte immer hinten in diesem Kindertragegestell. Und weil ich schwerer als mein kleiner Bruder war, trug mich Vater. Das fand ich wunderbar!
Aber wenn wir Kinder nicht gehorchten, sagte meine Mutter zuweilen: ‹Jetzt lüt i äm Papi a!› Das kam durchaus als Drohung rüber, denn wenn Vater schimpfte, tat er das mit lauter Stimme, die uns Eindruck machte.
Ich hatte immer das Gefühl, was ich mache, interessiere ihn nicht. Und dann hörte ich auf, mit ihm zu reden. Da war ich wohl etwa vierzehn. Ich weiss nicht, ob er überhaupt merkte, dass mir das fehlte. Vielleicht dachte er: Sie soll einfach ihr Ding machen!
Mutter fand Lippenstift auf seinem Hemd
In der Pubertät verschlechterte sich das Verhältnis zu den Eltern ohnehin. In jener Zeit begannen auch die politischen Diskussionen, ich war damals eher links orientiert. Mein Bruder wurde wütend und sagte: ‹Du sagst immer das Gegenteil vom Vater.› Der hatte damit kein Problem, er fand, jeder könne seine eigene Meinung haben, die Linken bräuchten ja auch Menschen, die ihre Meinung verträten. Vater und ich konnten uns schon die Argumente um die Ohren schlagen. Manchmal wurde ich so wütend, dass ich zu weinen begann, was wiederum ihn nervte: ‹Du fängst immer gleich zu flennen an, hör doch auf!›
Fehler zugeben, das war ohnehin nicht seine Sache. So empfand ich es innerhalb der Familie. Das war dann auch der Fall, als er eine Affäre begann und der Mutter vorwarf, sie erfinde das alles. Ans Licht gekommen ist es ja dann doch: Meine Mutter fand Lippenstift auf seinem Hemd und auf seinem Natel SMS. Die wollte sie sich als Beweis auf ihr Handy schicken. Aber weil sie so nervös war, schickte sie die Nachrichten aus Versehen an meine Nummer. Für mich wäre das der Moment gewesen, in dem er hätte sagen können: ‹Du, schau, ich muss dringend mit dir reden›, dann hätte man sich treffen können und ich hätte alles nicht als so schlimm empfunden.
Ich weiss noch, ich war gerade am Lernen, kurz vor den Prüfungen, da rief er mich an und gab es endlich zu. Ich schrie in der Bibliothek herum, sagte ihm alle Schande und weinte heftig. Ich sagte: «So geht das gar nicht!» Ich habe Verständnis für Untreue. Aber wenn man dann den anderen dumm hinstellt und sagt: ‹Was du dir wieder einbildest, du spinnst doch›, finde ich das respektlos.
Klar, es braucht immer zwei, wenn es nicht funktioniert, und ich merkte schon auch, dass es zwischen den Eltern nicht mehr so gut lief. Schon ein paar Jahre zuvor gab es eine Phase, da war er auffällig missgelaunt. Kam man nach Hause, wusste man, jetzt motzt er dann gleich wieder. Er lief im Haus herum und sagte gelegentlich: ‹Ich habe die Midlife-Crisis.›
Er fühlte sich sichtlich unwohl. Danach schien er wieder ausgeglichener und erzählte, was er alles nach der Pensionierung machen wolle. ‹Weisst du›, sagte er, ‹der Vater war ja Bauer, und das wäre doch schön, jetzt wieder ein paar Kühe zu haben.› Es macht mich sehr traurig, dass er diese Chance nicht mehr erhalten hat.
Ich erinnere mich gut an den Tag, als Vater mir sagte, dass er schwer krank sei. Meine Eltern und ich waren im Januar ein paar Tage mit meiner Gastschwester in Davos. Vater fuhr ständig mit uns Ski. Abends gingen wir essen, und er erwähnte, er habe immer so ein Würgen im Hals. Er könne nicht mehr richtig schlucken. Er meinte, das sei etwas mit dem Herz. Das schien mir absurd. Dann fügte er an, der Arzt meine, er solle eine Darmspiegelung machen. Ich sagte: ‹Das hat nichts mit dem Darm zu tun, wenn schon, eher mit dem Magen. Mach auch gleich eine Magenspiegelung.›
Vater hatte Angst, herumsiechen zu müssen
Nach dem Untersuch rief er mich an und sagte: ‹Das wird nichts mehr, ich habe noch ein halbes Jahr.› Es war das erste Mal, dass ich ihn wirklich emotional erlebte. Er begann zu weinen, und das war das erste Mal, dass ich ihn weinen hörte. Er versuchte dann aber, weiter den Starken zu spielen, sagte etwa: ‹Andere sterben auch.›
Es war ein Wechselbad. Einerseits die Frage: ‹Warum gerade ich?›, und andererseits: ‹Ich hatte ja ein gutes Leben.› Unmittelbar nach der Krebsdiagnose hatte er das Gefühl, alles sei vorbei.
Er meinte, für ihn gebe es nur noch eine palliative Chemo. Er meldete sich bei Exit an und begann, alles für sein Lebensende zu regeln. Wir hatten wieder mehr miteinander zu tun und begannen, über Dinge zu reden, die für uns relevant waren. Er wollte wissen, was in meinem Leben läuft. Und dann kam wieder eine Zeit, in der er nur noch von sich und seiner Krankheit redete.
Mein Vater hatte Angst, er verpasse den Zeitpunkt zum Sterben, Angst, im Spital herumsiechen zu müssen, keine Kontrolle mehr zu haben. Ich sagte ihm: ‹Ist gut, ich verstehe das.›
Aber ich bin natürlich auch die Medizinerin und habe keine Chance auf Heilung mehr gesehen, während Ursula und Matthias (Lebensgefährtin und Sohn; Red.) fanden: ‹Jetzt flieg noch da oder dort hin, versuch dies oder das, geh nach Bochum in eine Spezialtherapie.› Aber das wollte er nicht hören. Er wurde wütend: ‹Immer wollt ihr alle, dass ich weitermache, aber ich mag nicht mehr.›
Ihn belastete, dass er uns jetzt allein lassen musste. Ich besuchte ihn jeden zweiten Tag im Spital. Auf dem Weg weinte ich, aber wenn ich bei ihm im Zimmer war, wollte ich ihn nicht belasten und nahm mich zusammen. Ich wusste, das sind seine letzten Tage, und hoffte, dass er noch möglichst viele schöne Dinge erleben konnte. Heute glaube ich, wir hatten es im Leben fast nie so gut miteinander wie in diesen letzten Wochen, in denen wir uns aufeinander einlassen konnten. Dafür bin ich dankbar.
Ich hatte die Gelegenheit, ihm alles zu sagen, was ich ihm sagen wollte. Er genoss es und konnte das auch sagen: Das seien die schönen Momente, wenn seine Familie vorbeikomme. Mein Vater brachte immer viel Verständnis für die Lebenssituation anderer Leute auf. Er fand, man könne sie nicht dafür verurteilen, was sie sind und was sie machen. Ich glaube, darin unterschied er sich von vielen in seiner Partei.
Was er mir fürs Leben mitgegeben hat? Jetzt kommen mir wieder Tränen: Dass man, wenn man hart arbeitet, weit kommt. Dass man immer seine eigene Meinung sagen sollte. Mein Vater war sehr geradlinig, das gab er mir mit. Dafür bin ich jetzt bekannt, dass ich ‹graduse› bin.»
Neben This Jennys Tochter Bettina kommen auch seine früheren Frauen in dem Buch zu Wort. Dreissig Jahre war der Familienvater mit Heidi Jenny (rechts) verheiratet. Sie beschreibt die letzten Szenen vor seinem Tod so: «Als sich This und ich voneinander verabschiedeten, flüsterte er mir ins Ohr: ‹Es tut mir leid.› Das war das erste Mal, dass er sich bei mir entschuldigte.» Ursula Abgottspon (links) war Jennys Partnerin bis zu seinem Tod. Sie erinnert sich an die letzten Sekunden: «Ich stand am Fussende seines Bettes. Er schickte mir einen Kuss und mit seinem letzten Blick, den er mir schenkte und der mir auch heute noch so gegenwärtig ist, eine klare Botschaft: ‹Es kommt gut, Ursula, für dich kommt es gut.› Nach This’ Tod konnte ich, bevor die Behörden eintrafen, noch mit ihm allein im Zimmer sein. Heute bin ich dankbar für diesen Moment, und wenn es mir besonders schlecht geht, denke ich an This’ Blick.
Neben This Jennys Tochter Bettina kommen auch seine früheren Frauen in dem Buch zu Wort. Dreissig Jahre war der Familienvater mit Heidi Jenny (rechts) verheiratet. Sie beschreibt die letzten Szenen vor seinem Tod so: «Als sich This und ich voneinander verabschiedeten, flüsterte er mir ins Ohr: ‹Es tut mir leid.› Das war das erste Mal, dass er sich bei mir entschuldigte.» Ursula Abgottspon (links) war Jennys Partnerin bis zu seinem Tod. Sie erinnert sich an die letzten Sekunden: «Ich stand am Fussende seines Bettes. Er schickte mir einen Kuss und mit seinem letzten Blick, den er mir schenkte und der mir auch heute noch so gegenwärtig ist, eine klare Botschaft: ‹Es kommt gut, Ursula, für dich kommt es gut.› Nach This’ Tod konnte ich, bevor die Behörden eintrafen, noch mit ihm allein im Zimmer sein. Heute bin ich dankbar für diesen Moment, und wenn es mir besonders schlecht geht, denke ich an This’ Blick.