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Editorial von Reza Rafi
Escort, Hass und Populismus

Was ein Politiker einem Menschen antun kann, musste Chiara Russo schmerzlich erfahren.
Publiziert: 27.09.2020 um 00:16 Uhr
Reza Rafi, stv. Chefrdaktor SonntagsBlick
Reza Rafi

Liebe Leserin, lieber Leser

Der Name der Frau tut nichts zur Sache.

Nennen wir sie Chiara Russo. Die Schweizerin fand nach ein paar Bürojobs ihre berufliche Erfüllung, als sie sich für eine Lehrerlaufbahn auf dem zweiten Bildungs-weg entschied. Mit 27 Jahren trat sie eine Stelle als Primarlehrerin in einem mittelständischen Zürcher Quartier an.

Sie war glücklich in ihrem Beruf.

Bis zum 4. Juni 2019.

Bis ein Nationalrat erbarmungslos in ihr Leben trat.

Er ist dank seiner Ausfälligkeiten so prominent, dass seine Initialen A. G. – wie das Kürzel seines Kantons – hier reichen sollten.

Der Rechtsaussenpolitiker hatte Russo nicht etwa mit unflätigen Briefen belästigt oder mit Anrufen bedrängt; nein, G. warf die junge Frau dem Internet-Mob zum Frass vor. Er publizierte Russos Handynummer auf Facebook und schrieb dazu: «Vielleicht möchte jemand der Lehrerin mitteilen, was man davon hält.»

Ihre Sünde: Sie hatte sich an die Zürcher Volksschulverordnung gehalten. Die sieht vor, dass muslimische Kinder an einem islamischen Feiertag freinehmen dürfen.

Es war der Beginn eines Albtraums; tage- und nächtelang wurde sie mit wüsten E-Mails und bösartigen SMS eingedeckt.

Jemand platzierte ihre Nummer auf einer Escort-Seite, worauf sie von Freiern und Lüstlingen belästigt wurde. Russo stürzte in eine persönliche und berufliche Krise. Glücklicherweise überstand sie die Zeit.

Aber die Spuren sind noch da. Heute sagt sie: «Oft denke ich: Was, wenn es jemand anderes getroffen hätte? Und was, wenn ich daran zerbrochen wäre?» Solche Fragen lassen sie nicht mehr los.

A. G. entfernte den Beitrag nach einer Intervention der Behörden. Und entschuldigte sich persönlich bei Russo. «Halbherzig», wie sie betont. Beim Treffen sei er lammfromm aufgetreten – bis er wieder auf die ausländischen Namen in ihrer Klasse zu sprechen kam.

Obwohl Russo einen grossen menschlichen Schaden erlitt, hat ihr Anwalt von juristischen Schritten abgeraten; dafür sei die rechtliche Grundlage in der Schweiz zu dünn. G. unterschrieb eine Unterlassungserklärung.

Seinem Verhaltensmuster bleibt G. indes treu. Diese Woche hat er eine Andersdenkende im Parlament unter der Gürtellinie angegriffen. Natürlich folgte auch hier wieder der Rückzieher: Die primitive Verballhornung ihres türkischen Namens sei ein Versprecher gewesen.

Die heute 30-jährige Chiara Russo hat dem Lehrerberuf mittlerweile den Rücken gekehrt. Nicht nur, aber auch aufgrund dessen, was ihr der Politiker zufügte.

Die 64 053 Aargauerinnen und Aargauer, die A. G. bei den Wahlen 2019 ihre Stimme gaben, sollten vielleicht mal in sich gehen.

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