Stünde die SVP auf der anderen Seite, sie würde die Durchsetzungs-Initiative als «Zwängerei!» bezeichnen. Die Initiative bricht mit Schweizer Traditionen, mit dem bewährten Zusammenspiel von Volk, Regierung und Parlament. Die SVP hat nicht einmal die Parlamentsberatung der Ausschaffungs-Initiative abgewartet und auch kein Referendum ergriffen, wie das üblich ist. Stattdessen setzte sie schnell einmal auf die Durchsetzungs-Initiative.
Begründung: In Bern oben verweigere man die Arbeit.
Doch die gewählten Volksvertreter haben bei der Umsetzung der Ausschaffungs-Initiative keineswegs die Arbeit verweigert. Im Gegenteil: Sie haben das Gesetz massiv verschärft. Die Zahl der Ausschaffungen wird damit künftig verzehnfacht. Und in einigen Punkten ist es sogar härter als die Durchsetzungs-Initiative. Es würden etwa mehr ausländische Pädophile ausgeschafft als mit der Durchsetzungs-Initiative. Aber das Parlament hat zu Recht eine Härtefallkausel eingefügt und damit die vom Volk bestätigte Verfassung beachtet.
Die Verfassung ist die wohl wichtigste Errungenschaft unserer direkten Demokratie. Zu ihr müssen wir Sorge tragen. Eines ihrer wesentlichen Merkmale ist, dass sie den einzelnen Menschen ins Zentrum stellt. Jeder soll gleich behandelt werden. Jeder soll individuell beurteilt werden. Die Durchsetzungs-Initiative setzt diesen Grundsatz, den wir alle auch im Alltagsleben für uns beanspruchen, ausser Kraft. Und geht damit zu weit.
Ein Beispiel des St. Galler Staatsanwalts Thomas Hans-jakob zeigt dies: Ein Italiener, der schon lange in der Schweiz lebt, fuhr vor acht Jahren innerorts 20 km/h zu schnell. Dafür bekam er eine bedingte Geldstrafe. Hat er nach der Einführung der Durchsetzungs-Initiative Streit mit dem Nachbarn, tritt er seine Gartentür ein und dringt in den Garten ein, dann begeht er eine Sachbeschädigung und einen Hausfriedensbruch – und bekommt zwingend eine Landesverweisung. Eine solche Strafe ist unverhältnismässig.
Wenn wir mit einem strikten Automatismus die individuelle Beurteilung jedes Falles beschneiden, dann sägen wir am Stamm unserer Verfassung. Und wer die Verfassung von innen aushöhlt, hilft letztlich nur jenen Extremisten, die von aussen unsere freiheitlichen Werte bedrohen.
Mit extremen Lösungen ist die Schweiz noch nie vorangekommen. Das wissen auch die Initianten. Bei der Umsetzung anderer Initiativen strebt auch die SVP immer wieder den Kompromiss an und nicht die wortgetreue, möglichst harte Umsetzung. So plädierte die Partei etwa bei der Zweitwohnungs-Initiative für einen Kompromiss – und verunglimpfte diesen demokratischen Prozess nicht als Missachtung des Volkswillens.
Wem es um die Sache geht und nicht um das parteipolitische Kalkül der SVP, der kann mit bestem Gewissen die Durchsetzungs-Initiative ablehnen und auf das harte, aber umsetzbare Ausschaffungsgesetz des Parlaments zählen.