Die SP-Politikerin Ursula Wyss (43) will erste Stadtpräsidentin von Bern werden
«Ich bin in einer privilegierten Situation»

Im Interview mit SonntagsBLICK sagt SP-Politikerin Ursula Wyss, es müsse in Bern mehr bezahlbaren Wohnraum geschaffen werden und dass auch Linke nicht gegen Machismo und Sexismus gefeit sind.
Publiziert: 23.10.2016 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 30.09.2018 um 20:53 Uhr
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Ursula Wyss am Freitagnachmittag auf der Kleinen Schanze in Bern.
Foto: Marco Zanoni
Interview: Marcel Odermatt und Simon Marti; Foto: Marco Zanoni

SonntagsBLICK: Frau Wyss, Bern wird seit 24 Jahren von Sozialdemokraten und Grünen regiert. Was hat das gebracht?
Ursula Wyss:
Mehr Lebensqualität. Wo immer Hauptstädte verglichen werden, ist Bern stets unter den Bestplatzierten.

Und was hat es geschadet?
Wir haben es nicht geschafft, genügend bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Nicht alle, die in der Stadt wohnen möchten, finden einen Platz. Das ist ein Versäumnis der letzten zehn, zwanzig Jahre. Zürich hat vorgemacht, wie eine Stadt gemeinsam mit Genossenschaften Wohnraum schaffen kann. Da muss Bern noch lernen.

Wie konnte in Bern eine so stabile linke Mehrheit entstehen?
Viele vermeintlich linke Themen sind nicht mehr links. Zum Beispiel die Verkehrsberuhigung: Auch Bürgerliche wollen Tempo 30 in ihren Quartieren. Städtische Politik kann nicht einfach als rechts oder links kategorisiert werden.

Macht die unumstrittene Position nicht träge? Und fördert den Filz?
Bern ist nicht riesig, man weiss, wer wofür verantwortlich ist. Und die Medien sind kritisch. Hier entsteht kein Filz. Die SP ist die stärkste Partei, aber es ist ein Auf und Ab.

Alexander Tschäppät erklärte Sie schon 2012 zu seiner Nachfolgerin. Ein Beweis für die Arroganz der Macht.
(Lacht) Ich habe das als Sympathiebekundung empfunden. Es freut mich, dass er mich unterstützt. Aber Tschäppät hat lediglich eine Stimme.

Wären nicht Ihre grünen Partner an der Reihe, den Stadtpräsidenten zu stellen?
Auch das muss die Bevölkerung entscheiden.

Für viele in der Schweiz gilt die Reitschule als Schandfleck der Bundesstadt. Wann waren Sie zum letzten Mal da?
Im Sommer, zu einer Theateraufführung. Das entspricht meinem Alter. Die verrauchte Bar reizt mich nicht mehr. Ich würde auch gerne Konzerte besuchen. Aber wenn ich merke, dass etwas Spannendes läuft, ist es schon ausverkauft. Das ist die Berner Ambivalenz: Wir lieben die Reitschule als Kulturzentrum und verabscheuen die Gewalt dort.

Wie wollen Sie die stoppen?
Nichts führt am Dialog aller Beteiligten vorbei. Die Polizei greift ein, wo nötig. Die Stadt wiederum sorgt für Beruhigung im Umfeld.

Alexander Tschäppät gilt als volkstümlich, Sie als kontrolliert. Wären Sie eine Stadtpräsidentin zum Anfassen?
Ja, aber ich bin sicher anders. Zugleich bin ich genauso gern in Bern unterwegs und unter den Leuten. Viele erzählen mir ihre Sorgen auf der Strasse. Und auch ich trinke gerne mal ein Glas.

Und «Fuck Blocher» rufen?
Das würde ich nie tun. Er hat es übrigens nicht gerufen, sondern gesungen. Und ich bin unmusikalisch.

Tschäppät wird ein schwieriges Verhältnis zu Frauen nachgesagt. Warum hielten die linken Bernerinnen die letzten Jahre immer zu ihm?
Ich habe ihn als umsichtigen Stadtpräsidenten kennengelernt, der sich für die Entwicklung von Bern einsetzt. Das Wohl der Stadtbevölkerung liegt ihm am Herzen.

Als Macho haben Sie ihn nie erlebt?
Ganz so absolut würde ich es nicht sagen …

Im zweiten Wahlgang könnte es zum Duell mit Alec von Graffenried kommen. Haben Sie Angst, dass er Sie mit Hilfe der Bürgerlichen besiegt?
Es geht nicht um mich oder meine Karriere. Ich möchte Bern voranbringen, wie bisher als Verkehrsdirektorin. Und hoffe einfach, dass die Wähler Vertrauen haben in meine Erfahrung.

Angenommen, Sie werden nicht Stadtpräsidentin ...
Im Moment konzentriere ich mich auf meine Direktion und den Wahlkampf.

Das glauben wir Ihnen nicht. Bleiben Sie Gemeinderätin?
Selbstverständlich.

Viele Berner halten Sie für unnahbar. Ruedi Strahm soll Ihnen geraten haben, mütterlicher aufzutreten. Ist das ein Beispiel für die Machokultur in der Politik?
Ich habe ihm dafür gesagt, er solle nicht immer karierte Hemden tragen.

Das ist nicht das Gleiche!
Ruedi Strahm und ich sind uns immer respektvoll begegnet. Der Spruch war sicher nicht optimal. Es ist aber sehr lange her, es hat sich viel geändert in der Gesellschaft. Wahrscheinlich würde er es heute nicht mehr sagen. Übrigens bin ich mittlerweile Mutter von zwei Kindern.

Sie verharmlosen: Eine emanzipierte Frau dreht doch durch, wenn ein Mann so daherredet.
Emanzipation ist ein Prozess. Wir haben in dieser Hinsicht keine lange Tradition in der Schweiz. Auch Linke sind gegen Machismo und Sexismus nicht gefeit. Dafür gibt es Beispiele genug. Wir sind noch längst nicht am Ziel.

Ihre beiden Kinder schicken Sie in eine Privatschule. Der kleine Lyonel ist jetzt gerade an der Französischen Schule im Kindergarten gestartet. Sind die öffent­lichen Schulen in Bern so schlecht?
Nein, die öffentlichen Schulen sind hervorragend. Das Problem sind die fehlenden Ganztagesstrukturen. Mein Mann und ich sind beide berufstätig und wir wollen, dass unsere Kinder den ganzen Tag am gleichen Ort verbringen können. Das entlastet uns und gibt uns ein gutes Gefühl, weil es auch Lyonel gefällt. So fragt er auch nicht jeden Mittag, warum ihn sein Mami nicht schon abholt. Ausserdem habe ich eine Affinität zur französischen Sprache. Ich besuchte das Gymnasium in Neuchâtel. Das hat mich geprägt.

Sie haben gut reden: Als Gemeinderätin verdienen Sie und Ihr Partner Thomas Christen als persönlicher Mitarbeiter von SP-Bundesrat Alain Berset sehr viel. Normalverdiener möchten ihre Kinder auch ganztags betreuen lassen, können es sich aber nicht leisten. Die Französische Schule kostet zwischen 8500 und 11'500 Franken im Jahr.
Meine Kollegin Franziska Teuscher will richtigerweise öffentliche Ganztagesschulen einführen. Für mich selbst kommt das zu spät, und ich weiss um unsere privilegierte Situation. Darum setze ich mich auch stark für mehr Ganztagesstrukturen ein.

Persönlich

Ursula Wyss (43) hat eine rote Blitzkarriere hinter sich. Als 16-Jährige trat sie der SP bei, acht Jahre später sass sie im Berner Grossen Rat. Von 1999 bis zu ihrer Wahl in den Berner Gemeinderat 2012 (Exekutive) politisierte die promovierte Ökonomin im Nationalrat, ab 2006 als Fraktionspräsidentin.

Ursula Wyss (43) hat eine rote Blitzkarriere hinter sich. Als 16-Jährige trat sie der SP bei, acht Jahre später sass sie im Berner Grossen Rat. Von 1999 bis zu ihrer Wahl in den Berner Gemeinderat 2012 (Exekutive) politisierte die promovierte Ökonomin im Nationalrat, ab 2006 als Fraktionspräsidentin.

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