Die Sexismus-Debatte
Wir werden täglich angemacht

«Ich will mit dir ins Bett!» Oder: «Brauchst du nicht auch mal wieder einen Mann?» Solche plumpen Aufforderungen hören Politikerinnen im Bundeshaus.
Publiziert: 16.10.2016 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 24.10.2018 um 11:31 Uhr
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«National- wie Ständeräte machten direkte Avancen bei mir» Claudine Esseiva (FDP)
Foto: Philippe Rossier
Peter Hossli

Yvonne Feri (50) steht mitten im Wahlkampf. Die SP-Nationalrätin will Aargauer Regierungsrätin werden. Derzeit erhält sie Mails, ihre Röcke seien zu kurz, ihr Haar sei zu schwarz.

Als «frigide» wird sie beschimpft, als «Emanze, die schlecht aussieht». Nach einem TV-Auftritt schreibt einer: «Bitte tragen Sie auch eine Burka, dann können wir uns Ihr Antlitz ersparen.»

Sexismus in der Schweiz? Aber sicher! Ein Alltagsphänomen.

Manchmal plump, wie auf dem Familienberg Rigi. Dort preist das Restaurant Kessiboden-Stübli «Arschbaggä Kafi mit Rahm» an, illustriert mit einem nackten Frauenpo. Manchmal unterschwellig, wenn die «Weltwoche» fragt, ob eine Konzernchefin schwanger werden darf.

Manchmal regt er auf, wie die Aussage von SVP-Nationalrätin Andrea Geissbühler (40). Sie fordert mildere Strafen für Vergewaltiger, wenn das Opfer «mitschuldig» sei. Seither reden Frauen auf Twitter unter dem Hashtag #SchweizerAufschrei über sexistische Erfahrungen und Erlebnisse.

Dass Frauen nicht länger schweigen, hat mit Donald Trump (70) zu tun. Am 8. November wählen die USA nicht ihn, sondern wohl Hillary Clinton (68) als erste Frau zum mächtigsten Menschen der Welt.

Darum ist der Wahlkampf sexistisch wie nie. Clintons Widersacher Trump bewertet das Aussehen von Frauen auf einer Skala von 1 bis 10. Witzelt über Menstruation. Prahlt, er greife Frauen an intime Stellen – «weil ich ein Star bin». Und Frauen schildern, wie er das tat.

Als Katalysator wirken die Berichte aus den USA. Noch bei Geri Müller (55) oder damals bei Bill Clinton (70) schwiegen viele Schweizerinnen. Nun reden sie.

Sex angeboten

Zuerst werden National- wie Bundesrätinnen nach Kleidern und Frisuren beurteilt – von Ratskollegen. Und von Journalisten kämen «ab und zu» anzügliche Bemerkungen, berichtet Nationalrätin Feri. «Einer sagte aus heiterem Himmel: ‹Ich will mit dir ins Bett, willst du nicht auch?›» In fünf Jahren habe sie drei solcher Angebote von Journalisten erhalten. Sogar in der Wandelhalle. «Dann laufe ich einfach weg, ich will ja nicht, dass jemand zuhört, unabhängig davon, ob es als Witz gemeint war oder ernsthaft.» Eine bürgerliche Nationalrätin kennt die Vorfälle.

Als Gemeinderätin in Wettingen AG wohnte Feri alleine mit ihren Kindern. Ein Politiker fragte sie: «Brauchst du nicht wieder mal einen Mann?» Was einer Flugpassagierin mit Trump widerfuhr, erlebte Feri vor Jahren bei einem Essen der Räte zweier Aargauer Nachbargemeinden. Einer der Politiker küsste sie. Ungefragt.

Bei der ersten Frage eines SRF-Interviews musste sich Feri rechtfertigen, warum sie in der Politik sei und nicht am Herd stehe. Das war nicht 1971, sondern im September 2016.

Was Gleichstellung und Feminismus betreffe, sei die Schweiz «ein Entwicklungsland», so die Zürcher SP-Nationalrätin Min Li Marti (42). «Wir hinken in der Diskussion ein paar Jahre hinterher.» Seit Dezember 2015 sitzt sie im Nationalrat. Ein Ratskollege beschied ihr, wenn ein Thema für sie zu kompliziert sei, könne sie ja später ihren Mann fragen.

Verbaler Sexismus ist häufiger als körperlicher. «Als Politikerin kannst du es nie recht machen», sagt Marti. «Du bist zu laut, zu leise, zu kühl, zu emotional.» Rasch heisse es, einer Frau fehle das Selbstbewusstsein. «Ist sie aber ehrgeizig, gilt sie als blöde Kuh, als ‹bitch›.»

Weil es in Bern  mehr linke als bürgerliche Frauen gebe, «sind plumpe Sprüche bei uns seltener», sagt Marti. «Aber es gibt auch linke Machos.» Als sie in die Politik kam, traf sie viele junge linke Frauen, etwa Ursula Wyss (43) oder Pascale Bruderer (39). In der Juso waren lange Zeit Männer dominant, vor allem in der Öffentlichkeit: «Ich weiss nicht, ob ich mich da wohlgefühlt hätte.»

Die derzeit höchste Schweizerin erlebt «sexistische Aussagen auf tiefstem Niveau», sagt Nationalratspräsidentin Christa Markwalder (41). «Die Hemmschwelle, Frauen zu beschimpfen, ist tief.»

Plumpe Anmache

Wiederholt höre sie, Frauen gehörten nicht an die Spitze. Markwalder: «Es gibt leider immer noch Männer, die es nicht aushalten, dass die Macht heute geteilt wird.» Die Medien beurteilten Politikerinnen anders als Politiker, sagt sie. Anstatt des politischen Leistungsausweises würden bei Frauen oft Aussehen, Kleidungsstil, Frisur oder ihre Familiensituation ins Zentrum gerückt. Markwalder: «Ich habe noch nie gelesen, dass sich ein kinderloser Mann dafür hätte rechtfertigen müssen.»

Über die neue FDP-Präsidentin Petra Gössi (40) wird gesagt, sie führe «partizipativ». Was Männer meinen: Gössi sei schwach, Ex-Präsident Philipp Müller (63) noch immer die starke Figur im Hintergrund.

Gestandene Diplomaten im EDA geben sich «irritiert» über die Wahl von Botschafterin Pascale Baeriswyl (48) zur neuen Staatssekretärin. Sie sei «unerfahren». Was sie meinen: Warum hat eine Frau den Job, der eigentlich ihnen zustünde. Noch immer fühlen sich Männer den Frauen überlegen. Gegen plumpe Anmache könne man sich wehren, sagt FDP-Politikerin Claudine Esseiva (38). «Mühsamer ist unterschwelliger Sexismus.» Vor allem als junge Politikerin sei sie «als Blumentopf» an Anlässe eingeladen worden.

Später habe sie «direkte Avancen von angetrunkenen National- und Ständeräten» über sich ergehen lassen müssen. In der Wandelhalle des Bundeshauses wurde die Generalsekretärin FDP Frauen Schweiz zwar nie angemacht. «Aber auf Apéros und Ausflügen, das war unangenehm», sagt Esseiva. «Mit 27 kam ich ins politische Geschäft. Um das auszuhalten, braucht es Selbstbewusstsein.» Geholfen hätten ihr nicht selten Männer. «Es gibt viele Männer, die das nicht okay finden.»

Nun sei sie Mutter und werde «mehrheitlich eingeladen, weil ich etwas zu sagen haben, nicht weil ich herzig wäre». Opfer will sie nicht sein. «Aber als Gesellschaft müssen wir weiterkommen – und das können wir nur, wenn wir den Sexismus nicht gutheissen.»

Frech kontern

Natalie Rickli (39) sieht kaum Probleme. Klar gebe es Männer, die «ab und zu» Sprüche machen, aber die könne man «schlagfertig kontern». Die SVP-Nationalrätin betont, dass heute «auch die Frauen über schöne Männer tratschen und Sprüche machen».

Dummheit, so Rickli, sei nicht strafbar. Überschreite einer rechtliche Grenzen, «muss er hart bestraft werden». Sie kämpft seit Jahren um längere Strafen für Vergewaltiger: «Dagegen stimmen dann die linken Politikerinnen, die sich jetzt über Sexismus aufregen.»

Aus Sicht Natalie Ricklis ist die Gleichstellung in der Schweiz Wirklichkeit. Dass die Schuhe der britischen Premierministern Theresa May (60) oder ihre Frisur ein Thema sind, «damit muss man umgehen können». Trump jedoch bezeichnet Rickli als «widerlich». Andererseits ziehe an der Seite von Hillary Clinton  der Mann ins Weisse Haus ein, «der sie vor aller Weltöffentlichkeit betrogen, belogen und blossgestellt hat».

Das, so Rickli, «scheinen die Feministinnen vergessen zu haben».

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