Die neusten Analysen über Russlands Truppenaufmarsch nahe der ukrainischen Grenze sind beängstigend. In Europa und in der Schweiz scheinen sich Medien und Politik allerdings einzig mit der Frage zu beschäftigen, ob, wann und wo Russland in die Ukraine einmarschieren wird. Diese Frage ist jedoch nebensächlich. Zum jetzigen Zeitpunkt ist die Frage viel wichtiger, wie Russland für die aktuelle Drohkulisse zu sanktionieren ist. Denn es hat die rote Linie bereits überschritten – ohne Invasion.
Gemäss Art. 2 Abs. 4 der Uno-Charta sollten alle Mitglieder der Uno in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt unterlassen. Es ist offensichtlich, dass Russlands Truppenverschiebung und Waffentransporte unweit der ukrainischen Grenze gegen die Uno-Charta verstossen. Die Drohung Russlands ist nicht nur gegen die territoriale Integrität der Ukraine gerichtet, die bereits 2014 durch Russland verletzt worden ist, sondern genauso gegen deren Souveränität und politische Unabhängigkeit. Bundespräsident Ignazio Cassis hat die Ukraine als Schwerpunkt seines Präsidialjahrs benannt. Umso wichtiger wäre es, das Verhalten Russlands nicht nur deutlich zu verurteilen, sondern auch zu sanktionieren.
Die Schweiz tut derzeit beides nicht – weil sie sich aktuell als Plattform für diplomatische Gespräche zwischen den Konflikten anbietet. Doch Sanktionen und klare Worte schliessen den Dialog nicht aus. Vielmehr machen sie die Schweiz als Gesprächspartner glaubwürdiger und respektabler. Denn nur wenn man explizit Dinge bei ihrem Namen nennt und Verstösse gegen Regeln bestraft, kann man glaubwürdig einen Dialog führen.
2017 war ich als Menschenrechtsbeobachterin/United Nations Youth Volunteer für das Uno-Hochkommissariat für Menschenrechte in der Ostukraine. Ich besuchte Untersuchungsgefängnisse, Gerichtsverhandlungen und Siedlungen im Konfliktgebiet und analysierte die dortige Menschenrechtslage und ihre Übereinstimmung mit dem internationalen Recht. Die Schweiz hatte 2014 keine Sanktionen verhängt, als Russland die Krim annektierte und russlandfreundliche Milizen Teile des Donbass besetzten. Noch einmal sollte Russland nicht damit durchkommen, dass es mit scharf gewetztem Messer an der Tür zur Ukraine steht.
Entgegen der üblichen Zurückhaltung und Kleinmacherei der Schweiz sollten wir anerkennen, dass wir über mögliche Sanktionsinstrumente verfügen. Vermögenswerte des russischen Machthabers und regimenaher Personen auf Schweizer Territorium wären ein erster Ansatzpunkt. Dass die Schweiz dafür einen vorübergehenden Preis bezahlen würde, zum Beispiel in Form einer Erhöhung der Gaspreise durch Russland, ist möglich. Aber sich für die territoriale Souveränität und politische Unabhängigkeit eines Staates einzusetzen, hat seinen Preis. Und diesen sollte die Schweiz und ihre Bevölkerung, als stolze und funktionierende Demokratie, zu bezahlen bereit sein. Insbesondere in Bezug auf einen Staat, den sie in ihrer Aussenpolitik als prioritär bezeichnet.
* Xenia Rivkin ist Rechtsanwältin in Genf und ehemalige Menschenrechtsbeobachterin beim Uno-Hochkommissariat für Menschenrechte in der Ostukraine.