Die polnische Botschafterin Iwona Kozłowska im Interview
«Wir Polen wissen gut, was Krieg bedeutet»

Die polnische Botschafterin sagt, ihr Land sei von der EU nie ganz aufgenommen worden. Und sie äussert sich zum Umgang Polens mit Flüchtlingen.
Publiziert: 20.03.2022 um 00:51 Uhr
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Aktualisiert: 20.03.2022 um 10:47 Uhr
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Die polnische Botschafterin in Bern, Iwona Kozłowska.
Foto: Thomas Meier
Interview: Camilla Alabor und Simon Marti

SonntagsBlick: Frau Botschafterin Kozłowska, Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki ist am Dienstag zu Präsident Selenski nach Kiew gereist. Seine Botschaft?
Iwona Kozłowska: Die Reise von Premier Morawiecki – gemeinsam mit den Amtskollegen aus Slowenien und Tschechien sowie dem stellvertretenden polnischen Ministerpräsidenten Kaczynski – war ein Zeichen der Solidarität mit der Ukraine. Die Botschaft an das ukrainische Volk lautete: Ihr seid nicht alleine, ihr könnt auf europäische Unterstützung zählen. Wir stehen zu eurem Freiheitskampf. Und natürlich war die Reise ein starkes Signal gegenüber Russland, dass die Ukraine zu Europa gehört.

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Die Reise war mutig, keine Frage. Aber kann man wirklich von Solidarität sprechen, wenn der Westen russische Bombardements gegen ukrainische Zivilisten zulässt?
Die EU-Länder sind solidarisch und haben mit harten Sanktionen auf den russischen Angriff reagiert. Natürlich fordert uns die Situation heraus. Aber die Idee eines vereinten Europa war ja gerade, Frieden und Freiheit auf dem Kontinent zu sichern. Das ist das Fundament der europäischen Integration – jetzt kommen wir darauf zurück.

Persönlich

Iwona Kozlowska (50) vertritt als ­Botschafterin die ­Interessen von Polen in der Schweiz. Nach ihrem Studium in Germanistik und Europastudien in Deutschland trat sie 1999 in den ­po­lnischen diploma­tischen Dienst ein. Seither war sie in verschiedenen aussenpolitischen Funktionen für die Regierung tätig; von 2007 bis 2012 als Botschaftsrätin in Berlin. Kozlowska hat zwei Kinder und lebt in Bern.

Iwona Kozlowska (50) vertritt als ­Botschafterin die ­Interessen von Polen in der Schweiz. Nach ihrem Studium in Germanistik und Europastudien in Deutschland trat sie 1999 in den ­po­lnischen diploma­tischen Dienst ein. Seither war sie in verschiedenen aussenpolitischen Funktionen für die Regierung tätig; von 2007 bis 2012 als Botschaftsrätin in Berlin. Kozlowska hat zwei Kinder und lebt in Bern.

Die Ukrainer, die derzeit flüchten müssen, tröstet das vermutlich wenig. Müsste der Westen nicht mehr tun, um zu helfen?
Aber wir helfen ja! Wir helfen überall dort, wo es möglich ist. Auf politischer und humanitärer Ebene und auch militärisch, indem wir der Ukraine defensive Waffen liefern.

Präsident Selenski appelliert an die Nato, über der Ukraine eine Flugverbotszone zu verhängen. Was halten Sie davon?
Solidarität ist keine leere Formel; man muss sie auch leben können. Bei diesem Thema ist das Einverständnis des gesamten Nato-Bündnisses gefragt. Wir müssen gemeinsam agieren, nur so können wir diesen Akt der Aggression stoppen.

Tatsache ist doch: Der Westen hat Angst vor Putin, und dieser weiss das.
Natürlich haben die europäischen Gesellschaften Angst vor einem erweiterten Konflikt. Auf einmal ist unsere Generation mit Krieg in Europa konfrontiert. Die Ukraine ist nur etwa 2000 Kilometer von der Schweiz entfernt und grenzt direkt an Polen. Wir Polen wissen besonders gut, was Krieg und Fremdherrschaft bedeuten. Wir alle in Europa wollen, dass der Krieg zu Ende geht und sich nicht ausweitet.

Polen hatte stets vor Russland gewarnt. Haben Brüssel und Washington diese Befürchtungen zu wenig ernst genommen?
Wir haben Westeuropa immer vor einer steigenden Abhängigkeit von Russland gewarnt. Polen hatte sich auch von Anfang an gegen die Nordstream-Pipeline eingesetzt. Wir wissen, dass solche quasi privatwirtschaftlichen Projekte, wenn sie über den Köpfen von Ländern wie Polen entschieden werden, riskant sind. Riskant für ganz Europa. Denn wir wissen allzu gut, wie gefährlich der russische Imperialismus sein kann.

Nur drang Warschau mit seinen Warnungen nicht durch.
Westeuropa hat den Mitgliedsländern, die 2004 der EU beigetreten sind, vielleicht zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Man hat uns als Gesellschaft mit unseren Empfindlichkeiten und unserer Geschichte nicht ganz aufgenommen. Die EU war in erster Linie fokussiert darauf, die wirtschaftlichen Beziehungen aufzubauen. Dabei blieb das Geistige auf der Strecke.

Die EU hat von den Osteuropäern erwartet, dass sie sich an den Westen anpassen?
Exakt. Dabei ist gerade die Diversität die Stärke von Europa: dass alle so sein können, wie sie sind.

Auch über andere Werte haben sich Polen und die EU in den letzten Jahren gestritten: Brüssel kritisiert, dass die polnische Regierung die Rechtsstaatlichkeit aushöhlt.
Wir stehen zu allen Verpflichtungen, die wir 2004 mit dem EU-Beitritt übernommen haben. Die Frage ist, ob diese Verpflichtungen für alle Länder gleichermassen gelten. In Polen hat man das Gefühl, dass gewissen Staaten mehr erlaubt wird als anderen. Aber es ist sehr traurig, dass wir heute überhaupt darüber sprechen müssen. Denn es bedeutet, dass der europäische Integrationsgedanke an Substanz verloren hat. Es ist nicht gut für Europa, wenn wir uns gegenseitig belehren. Stattdessen sollten wir versuchen, einander besser zu verstehen.

Zurück zur Situation in der Ukraine: Bereits sind drei Millionen Menschen geflüchtet, zwei Millionen davon sind nun in Polen. Kann Ihr Land diese Belastung langfristig überhaupt stemmen?
Auf mich wirkt es wie ein Wunder: Alle Polen sind engagiert, alle machen mit. Ukrainische Kinder besuchen polnische Schulen, ihre Eltern erhalten eine Arbeitserlaubnis und Zugang zum Sozialsystem. Wir wissen nicht, wie lange dieser Ausnahmezustand dauern wird. Aber das Wichtigste ist jetzt, alles zu tun, um diesen Menschen zu helfen. Das ist eine gesamteuropäische Herausforderung und Verantwortung.

Früher wollte Polen bei einem europäischen Verteilschlüssel für Flüchtlinge nicht mitmachen. Gibt es nun ein Umdenken?
Nein, das ist kein Umdenken. Man kann Unvergleichbares nicht vergleichen. Heute haben wir es in Polen mit Kriegsflüchtlingen zu tun; mit Frauen und Kindern, die in Not sind und Sicherheit brauchen.

Syrische Flüchtlinge sind auch in Not und fliehen ebenfalls vor dem Krieg.
Natürlich, man muss diesen Menschen helfen. Damals versuchte man den Flüchtlingen aber aufzuzwingen, an welchem Ort sie Schutz suchen sollen, obwohl alle nach Deutschland wollten. Heute entscheiden sich die meisten Flüchtlinge aus der Ukraine für den Verbleib in Polen. In andere Länder fahren nur diejenigen, die es wollen.

Braucht Polen mehr Unterstützung, zum Beispiel von der Schweiz?
Die Kooperation ist sehr gut, der Kontakt mit den Schweizer Behörden hervorragend. Überhaupt haben Polen und die Schweiz vieles gemeinsam.

Wie meinen Sie das?
Die Polen und Schweizer haben ihre Herzen und Häuser für Flüchtlinge geöffnet. Respekt dafür! Die Schweizer haben natürlich ganz andere historische Erfahrungen als Polen, aber was für uns wichtig ist, ist auch für Sie wichtig: Freiheit und Souveränität. Heute kämpfen die Ukrainer für die Souveränität ihres Landes. Sie kämpfen auch für die Freiheit Europas.

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