Die Maschen der IV-Betrüger
So schamlos tricksen Versicherte

Bundesgerichtsurteile zeigen im Detail auf, wie Detektive Versicherungsmissbrauch aufdecken. Ohne sie gehe es nicht, sagt Andreas Dummermuth, Präsident der kantonalen Ausgleichskassen.
Publiziert: 21.07.2018 um 00:48 Uhr
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Aktualisiert: 11.10.2018 um 19:06 Uhr
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Wird ein IV-Streitfall ans Bundesgericht weitergezogen und wird das Urteil anschliessend veröffentlicht, wird auch Beweismaterial der Versicherungsdetektive einsehbar.
Foto: Keystone
Andrea Willimann

Seit dem Sommer 2017 dürfen Versicherungen wie die IV und die Suva keine Detektive mehr für Fotos und Videos losschicken, wenn sie bei IV-Rentnern Missbrauch vermuten. «Seit einem Jahr sind wir blind auf einem Auge», klagt Andreas Dummermuth (57), Präsident der zuständigen kantonalen Ausgleichskassen. 

Das Bundesgericht pfiff die AHV/IV-Stellen damals zurück, nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg die Schweiz gerüffelt hatte, dass sie keine Rechtsgrundlage für Versicherungsschnüffler habe. Das Parlament hat das Gesetz dann zwar in Rekordzeit verabschiedet. Doch die Detektive dürfen ihre Kameras trotzdem noch nicht zücken: Das Referendum «gegen Versicherungsspione» ist zustande gekommen. Am 25. November muss das Volk seinen Segen geben.

Bundesgerichtsurteile zeigen das wahre Ausmass

Dummermuth hofft auf ein Ja. Er will Detektive wieder punktuell und als letzte Massnahme einsetzen. «Denn auch wenn sie für die Betroffenen unangenehm sind: Sozialversicherungen sind kein Selbstbedienungsladen!» Ziel müsse sein, dass die richtigen Leistungen an die richtigen Personen gingen. «Das hat auch mit Fairness gegenüber Menschen mit Behinderungen zu tun.»

Wie nötig die Detektive sind, zeigt Dummermuth mit 14 Bundesgerichtsurteilen, die er zusammengetragen hat. «Dabei handelt sich nicht um besonders extreme Fälle. Es sind einfach solche, die ans oberste Gericht weitergezogen wurden.» Im Gegensatz zu den IV-Akten sind diese jedoch öffentlich.

Rollstuhlfahrer geht Aprikosen pflücken

Im Wallis wachsen süsse Aprikosen. Auf Bäumen. Bis zu den Früchten schaffte es auch ein IV-Rentner, bei dem nach einem Velounfall und Operationen eine inkomplette, linksbetonte Querschnittlähmung, Blasenprobleme sowie ausgeprägte Schmerzen diagnostiziert wurden. Deshalb sass er im Rollstuhl und erhielt eine angepasste Wohnung. 

Der Versicherte wurde dann aber observiert. Aufnahmen zeigten, wie er Holz sägte, Bäume spritzte und schnitt sowie mit Schaufel und Pickel arbeitete. Mehr noch: «Es habe beobachtet werden können, wie er auf eine Leiter gestiegen sei und sich dabei nach vorne gebückt und auf einem Bein stehend die Aprikosen gepflückt habe», heisst es im Urteil weiter.  

Schwierig war es für die Bundesrichter, die Schmerzen des IV-Rentners zu beurteilen. Die Angaben beruhten «primär auf den subjektiven (Schmerz-)Angaben des Beschwerdeführers». Es sei fraglich, ob sie durch Diagnosen erklärt werden könnten. Der Widerspruch zu den Beobachtungen der Detektive war den Richtern dann aber doch zu gross.

Illustration: Michael Balderas

Im Wallis wachsen süsse Aprikosen. Auf Bäumen. Bis zu den Früchten schaffte es auch ein IV-Rentner, bei dem nach einem Velounfall und Operationen eine inkomplette, linksbetonte Querschnittlähmung, Blasenprobleme sowie ausgeprägte Schmerzen diagnostiziert wurden. Deshalb sass er im Rollstuhl und erhielt eine angepasste Wohnung. 

Der Versicherte wurde dann aber observiert. Aufnahmen zeigten, wie er Holz sägte, Bäume spritzte und schnitt sowie mit Schaufel und Pickel arbeitete. Mehr noch: «Es habe beobachtet werden können, wie er auf eine Leiter gestiegen sei und sich dabei nach vorne gebückt und auf einem Bein stehend die Aprikosen gepflückt habe», heisst es im Urteil weiter.  

Schwierig war es für die Bundesrichter, die Schmerzen des IV-Rentners zu beurteilen. Die Angaben beruhten «primär auf den subjektiven (Schmerz-)Angaben des Beschwerdeführers». Es sei fraglich, ob sie durch Diagnosen erklärt werden könnten. Der Widerspruch zu den Beobachtungen der Detektive war den Richtern dann aber doch zu gross.

Wenn ein depressiver IV-Rentner Golf-Clubmeister wird

Ein Fall ist dem Vizepräsidenten der Schweizer Vereinigung für Sozialpolitik, der sich täglich mit Versicherungsmissbrauch konfrontiert sieht, besonders aufgestossen: Ein Zürcher mit unfallbedingten Schulter- und Kniebeschwerden erhielt erst eine IV-Vollrente, dann eine Teilrente bei einem Behinderungsgrad von 34 Prozent.

Später wünschte er eine Erhöhung wegen mittelgradiger Depressionen. «Doch fast zeitgleich erhielt die IV anonyme Hinweise, dass der gleiche Rentner auf hohem Niveau Golf spielt», erzählt Dummermuth. «Er bestritt Turniere in der ganzen Schweiz und wurde sogar Clubmeister!» Die IV-Stelle stoppte darauf die Zahlungen, das Bundesgericht bestätigte den Missbrauch.

Schmerzpatient rockt nachts die Bühne

Nach einem Verkehrsunfall war ein Mann wegen bleibender Kopf-, Nacken- und Schulterschmerzen zu 75 Prozent arbeitsunfähig und erhielt Leistungen der Unfallversicherung Suva. Aber nicht lange. Denn die Suva kam ihm auf die Schliche. Sie observierte den Mann, der gegenüber einem Schadensinspektor behauptete, er fühle sich wie ein 80-jähriger Mann und bleibe am Abend immer zu Hause.

Die Versicherungsspione entdeckten das pure Gegenteil: Der Mann trat in Tat und Wahrheit als Gitarrist und Leader seiner Rockband auf! Elf Mal in rund zwei Monaten. Da staunten sogar die Lausanner Juristen: «Hals, Nacken, Kopf und der beidseitige Schulterbereich würden bei dem engagierten Gitarrenspiel, dem wiederholten Wippen, Nicken, Neigen sowie dem teilweise lebhaften Gestikulieren stark und praktisch dauerhaft beansprucht. Zum Teil zeige der Beschwerdeführer mit offenem Haar auch ein richtiggehendes ‹Headbangen›», schrieben sie in ihrem Urteil. Dieses bestätigte den Versicherungsmissbrauch.

Illustration: Lily Metzker

Nach einem Verkehrsunfall war ein Mann wegen bleibender Kopf-, Nacken- und Schulterschmerzen zu 75 Prozent arbeitsunfähig und erhielt Leistungen der Unfallversicherung Suva. Aber nicht lange. Denn die Suva kam ihm auf die Schliche. Sie observierte den Mann, der gegenüber einem Schadensinspektor behauptete, er fühle sich wie ein 80-jähriger Mann und bleibe am Abend immer zu Hause.

Die Versicherungsspione entdeckten das pure Gegenteil: Der Mann trat in Tat und Wahrheit als Gitarrist und Leader seiner Rockband auf! Elf Mal in rund zwei Monaten. Da staunten sogar die Lausanner Juristen: «Hals, Nacken, Kopf und der beidseitige Schulterbereich würden bei dem engagierten Gitarrenspiel, dem wiederholten Wippen, Nicken, Neigen sowie dem teilweise lebhaften Gestikulieren stark und praktisch dauerhaft beansprucht. Zum Teil zeige der Beschwerdeführer mit offenem Haar auch ein richtiggehendes ‹Headbangen›», schrieben sie in ihrem Urteil. Dieses bestätigte den Versicherungsmissbrauch.

Bilder sind eindeutig, Schmerzbeschreibungen oft nicht

«Der Fall zeigt, dass schon einfache Beobachtungen im öffentlichen Raum entscheidend sind – auch für die Ärzte und Psychiater», so Dummermuth. Denn Schmerzen oder Depressionen liessen sich medizinisch nicht genau messen.

«Nur dank Videos und Bildern können wir zwischen Sein und Schein unterscheiden, wenn wir wegen offensichtlicher Unstimmigkeiten in den Unterlagen, Hinweisen von anderen Versicherungen oder Ermittlungen im Umfeld nicht weiterkommen.» 

Häufig verrät es auch schon Google

Auf die umstrittenen GPS-Peilsender, die das neue Gesetz nach richterlicher Erlaubnis vorsieht, ist Dummermuth gar nicht so erpicht: «Die Tracker zeigen nur Bewegungsmuster eines Autos auf. Direkte Observationen sind viel aussagekräftiger. Ebenso ergiebig sind auch Recherchen im Internet, da Facebook, Instagram und Co. laut Bundesgericht nicht als Privatsphäre gelten.» 

Ohne die Detektive befürchtet Dummermuth eine «Medizinalisierung». «Dann liegt die Einschätzung, was eine Person tun kann oder nicht, allein bei den Ärzten und Therapeuten.» Ein grosses Risiko für das Neun-Milliarden-Geschäft der IV: «Die Zahl der IV-Renten würde bestimmt ansteigen.»

Gegner befürchten Kriminalisierung aller Versicherten

Die Überwachungen, die IV und Suva zwischen 2009 und 2017 durchführten, hat die SRF-Nachrichtensendung «10 vor 10» kürzlich ausgewertet. Private Versicherer wie Krankenkassen gaben ihre Zahlen nicht im Detail bekannt. Insgesamt wurden von den staatlichen Versicherungen 2021 Personen überwacht. Bei 975 Personen konnte der Verdacht nicht bewiesen werden, bei 1037 bestätigte er sich.

Diese Zahlen alarmieren die Gegner des Gesetzes: «Während Steuerbetrügerinnen und -betrüger in der Strafverfolgung mit Samthandschuhen angefasst werden, findet eine Kriminalisierung aller Versicherten statt», so die SP. Das Referendumskomitee fordert unabhängige rechtsstaatliche Strukturen, die sicherstellen, dass die Richtigen überwacht werden. Die wenigen Fälle könnten dann von der Polizei überwacht werden.

«Man kann die Observationen ablehnen», sagt Dummermuth dazu. Aber dann müsse man in Kauf nehmen, dass das Sozialsystem missbraucht werde. «Denn die gleichen Leute machen auch bei den Ergänzungsleistungen, bei der Unfall- und allen anderen Versicherungen Falschaussagen.»

BLICK konnte Dummermuths Liste mit den Bundesgerichtfällen einsehen. Folgende drei Beispiele basieren auf Urteilen aus den Jahren 2013 bis 2016, die im Internet öffentlich nachzulesen sind. 

IV-Rentner stemmt Töff und Autopneus

Ein Bündner bezog während Jahren IV-Rente. Wiederholt war sein Anspruch überprüft worden. Zuletzt verschlimmerte sich der Gesundheitszustand: Seine Bewegungsfähigkeit sei massiv eingeschränkt, klagte der Versicherte. Er könne nicht einmal mehr Velofahren, obwohl er das lange Zeit versucht habe. Nur mehr Spazierengehen sei möglich. Vom Boden bis zur Taille könne er zudem keine Lasten mehr heben, und von der Taille bis zur Kopfhöhe nur ganz leichte Gegenstände. Etwa eine Tasse. 

Die IV-Stelle glaubte ihm nicht und liess ihn mit einer Standkamera vor seinem Haus observieren. Das Resultat: Der Versicherte zeigte abgesehen von etwas Hinken einen normalen Bewegungsablauf. Er war in der Lage, Pneus mit einem Gewicht von 15 Kilogramm aus dem Fahrzeug zu laden, über einen Platz zu tragen und sie vor dem Hauseingang abzustellen. 

Auch auf zwei Räder musste er nicht verzichten: Ohne Anzeichen körperlicher Einschränkungen stieg er auf ein grosses Motorrad – vollgetankt bis 600 Kilogramm schwer – und fuhr davon. Weg war dann auch sein IV-Anspruch.

Illustration: Lily Metzker

Ein Bündner bezog während Jahren IV-Rente. Wiederholt war sein Anspruch überprüft worden. Zuletzt verschlimmerte sich der Gesundheitszustand: Seine Bewegungsfähigkeit sei massiv eingeschränkt, klagte der Versicherte. Er könne nicht einmal mehr Velofahren, obwohl er das lange Zeit versucht habe. Nur mehr Spazierengehen sei möglich. Vom Boden bis zur Taille könne er zudem keine Lasten mehr heben, und von der Taille bis zur Kopfhöhe nur ganz leichte Gegenstände. Etwa eine Tasse. 

Die IV-Stelle glaubte ihm nicht und liess ihn mit einer Standkamera vor seinem Haus observieren. Das Resultat: Der Versicherte zeigte abgesehen von etwas Hinken einen normalen Bewegungsablauf. Er war in der Lage, Pneus mit einem Gewicht von 15 Kilogramm aus dem Fahrzeug zu laden, über einen Platz zu tragen und sie vor dem Hauseingang abzustellen. 

Auch auf zwei Räder musste er nicht verzichten: Ohne Anzeichen körperlicher Einschränkungen stieg er auf ein grosses Motorrad – vollgetankt bis 600 Kilogramm schwer – und fuhr davon. Weg war dann auch sein IV-Anspruch.

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