Die ganze Rede von Hansjörg Wyss
«Wir verbauen unseren Kinder die Zukunft»

Mit einer fulminanten Rede griff gestern der Schweizer Medizinaltechnik-Pionier Hansjörg Wyss in die EU-Debatte ein. Er verteidigte die Bilateralen Verträge, die Forschungszusammenarbeit mit der EU und wandte sich gegen die von der SVP betriebene Abschottungspolitik. Hier lesen die ganze Rede von Wyss.
Publiziert: 02.10.2014 um 23:33 Uhr
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Aktualisiert: 04.10.2018 um 18:20 Uhr
Christoph Lenz

«Wir verbauen unseren Kindern die Zukunft. Das ist der Titel meines Vortrags.

Ich bin politisch weder in der Schweiz noch in der USA, meinen beiden Wohnorten, engagiert. Und habe selten meine politische Ausrichtung mit der Öffentlichkeit geteilt. Im Gegensatz zu vielen Gerüchten, die über mir schweben, habe ich als Ausweispapier nur den Schweizer Pass. Keine Green Card. Keinen amerikanischen Pass. So dass ich hier als waschechter Schweizer in meiner Heimat, der Schweiz, auftrete. Im Übrigen bin ich in Bern aufgewachsen.

Selbstverständlich sind meine Ideen, Ansichten und Weltanschauungen durch meine vielen Auslandsaufenthalte in Schweden, Belgien, im Fernen Osten, in der Türkei und vor allem in den USA beeinflusst. Und ich habe vieles, das in der Schweiz in den letzten 25 Jahren politisch passiert ist, mit offenen, aber sehr erstaunten Augen verfolgt.

Warum habe ich selbst noch nie von einer anerkannten Schweizer Persönlichkeit, sei es ein Politiker, Wissenschaftler, Unternehmer, eine enthusiastische Aussage ohne negativen Unterton über die EU, ihre Entstehung und ihren ausserordentlich positiven, geopolitischen und wirtschaftlichen Beitrag zur Entwicklung der Länder Europas seit dem zweiten Weltkrieg gehört?

Eine positive Rede zur EU heisst nicht, wir müssen jetzt der EU beitreten. Sondern dass wir von der EU und den positiven Entwicklungen Europas, der offenen Welt und der meiner Ansicht nach so wichtigen Personenfreizügigkeit in einem grossen Teil Europas und von den Bilateralen Verträgen, die uns Europa zugestanden hat, über viele Jahrzehnte profitiert haben. Selbstverständlich haben die Staaten der EU dank unserer De-facto-Mitgliedschaft ebenfalls, wenn auch nicht im gleichen Masse, profitiert.

Wir vergessen immer wieder, bewusst oder unbewusst, dass uns Ausländer über die Jahrhunderte viel gebracht haben. Von den Secondos, ohne die wir keine konkurrenzfähige Fussballnationalmannschaft hätten. Von den Hugenotten, den Begründern unserer Uhrenindustrie. Zu den Tausenden von Italienern, die während meiner Studienzeit unsere Tunnels, Brücken und Strassen gebaut haben.

Viel zu leicht vergessen wir die friedliche und rasante positive Entwicklung in Europa seit der Montanunion 1951. Die Grundidee war Zollfreiheit für Kohle und Stahl.

Während des EU-Integrationsprozesses standen wir Schweizer irgendwie immer da, Gewehr bei Fuss, und schauten zu. Damals wie heute war Grossbritannien misstrauisch gegenüber der EU, gründete die EFTA, der sich auch die Schweiz und Schweden anschlossen. Von 1967 bis 1969 führte ich in Schweden eine Firma, die deshalb nur in einem sehr beschränkten Markt bearbeiten konnte. Der wichtige Binnenmarkt der EU, angeführt von Deutschland, blieb uns verschlossen. Und ich hoffe, dass das nicht wieder passieren wird.

Irgendwie konnte ich das »Gewehr bei Fuss« in den 60er- und 70er-Jahren noch verstehen. Dass aber die Mitgliedschaft in der EWR, unsere einmalige und grosse Chance, in der Abstimmung im Jahre 1992 abgelehnt wurde, hat mich sehr enttäuscht. Das habe ich nicht begriffen. Wenn man die Propaganda zu dieser Abstimmung untersucht, wurde folgendes behauptet: Zuerst EWR, dann zwingender Beitritt zur EU. Staat, Kantone und Gemeinden verlieren ihre Selbstständigkeit, Autonomie wird abgebaut, wir müssen Brüssel gehorchen. Mehrwertsteuer der EU muss übernommen werden. Lebensstandard wird nach unten nivelliert. Die Löhne der Arbeitnehmenden und die Einkommen der Selbständigen werden unter dem Druck der Zuwanderer abgebaut. Arbeitslosigkeit, Überfremdung, Wohnungsmangel, die Zinsen würden sich massiv erhöhen. Die Schweiz muss auf ihre Neutralität verzichten. Und so weiter und so fort.

Sie werden noch viele dieser Ammenmärchen, die von einer gewissen Partei verbreitet wurden, in Erinnerung halten.

In keinem Mitgliedsland der EU sind diese Tatsachen eingetroffen. In der Schweiz dank der geschickten Verhandlung der bilateralen Verträge auch nicht, denn de facto gehören wir zur EU. Ob wir es wollen oder nicht. Und wir haben in jeder Hinsicht profitiert. Unsere Löhne sind trotz Personenfreizügigkeit nicht zusammengebrochen und die Arbeitslosigkeit ist tief. Leider wurde diese Polemik, die Art der Polemik, durch die Schweizer Rattenfänger von Seldwyla bei der Diskussion über die Einwanderungsinitiative wieder aufgefrischt.

Und es wurde mit verfälschten Tatsachen vor der Abstimmung ein Gefühl der Angst hervorgerufen.

Jetzt stehen wir vor einem Scherbenhaufen. Wenn ein Krug zum Brunnen geht bis er bricht, und so viele Stücke übrigbleiben, dann hilft auch der beste Leim nichts. Nun müssen unsere Behörden die Quadratur des Kreises lösen. Wie können wir die Vorteile der Bilateralen Verträge behalten und die Stimmbevölkerung, die diese Verträge dreimal klar angenommen hat, respektieren und gleichzeitig die Personenfreizügigkeit verletzen? Ich beneide weder den Bundesrat noch die Beamten, die diese Probleme lösen müssen.

Nach dem eindeutigen Absagebrief der Aussenministerin der EU, Catherine Ashton, und dem etwas naiven – ich entschuldige mich – Brief unserer Migrationsbeamten nach Brüssel, sehe ich unseren Verhandlungsspielraum eingeschränkt. Es ist ironisch, wenn eines der Hauptargumente der Demagogen, Namen seien nicht genannt, bei der Abstimmung über die Masseneinwanderungsinitiative die Bewahrung unserer sogenannten Schweizer Werte war. Leider hat die Abstimmung einen ganz anderen Effekt erzielt.

Unsere wahren Werte sind laut Bundesverfassung das Bestreben den Bund zu erneuern und Freiheit, Demokratie, Unabhängigkeit, Frieden, Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt zu stärken. Für diese Werte kommen Menschen, Junge und Unternehmer in die Schweiz und für diese Werte stehen wir Schweizer. Durch die Annahme der Initiative bewegen wir uns aber in die falsche Richtung. Zu einer Isolierung, einer Unterminierung unserer historischen Werte und unsere bewährten, breit abgestützten politischen Systems.

Offenheit hat uns die Bedingungen für Erfindungen, Innovation und Prosperität gebracht. Darum wollen Studenten, Wissenschaftler, Firmen bei uns sein. Wir haben eine lange Vorgeschichte – denken wir nur an Albert Einstein. Und auch in der Wirtschaft müssen wir weiterhin Fortschritte machen. Auch da sind wir auf die Welt und die EU angewiesen. Denn als Heimmarkt ist die Schweiz für unsere Industrie zu klein. Und selbst im Sport ist es doch so, dass unsere Sportler nur im Wettbewerb mit den Besten der Welt zu Hochform auflaufen können und Medaillen gewinnen. Und das gilt auch für die Akademiker, die Studenten und die Forscher.

Einverstanden, offene Grenzen und Freihandel bringen uns auch Probleme. Die kleineren werden jeden Tag im BLICK beschrieben. Wie sorgen wir vor, dass alle am Erfolg partizipieren? Und dass die Folgen und Kosten der Offenheit von allen getragen werden?

Ich bin aber überzeugt, dass wir diese Fragen lösen können, ohne uns nach Innen zu wenden oder uns von der Welt und Europa abzukapseln. Deshalb muss es unsere Aufgabe und Herausforderung sein, einen neuen Kurs einzuschlagen, bevor wir uns Nachteile erarbeiten, und zu den Werten und Prinzipien zurückkehren, mit denen wir als Land und Volk erfolgreich gewesen sind.

Ich erwarte von unseren wichtigen Interessenverbänden - dem Schweizerischen Gewerkschaftsbund, dem Gewerbeverband, dem Arbeitgeberverband, der Economiesuisse und vielen anderen, von Politikern und der Bevölkerung, eine Reaktion zum Wohle unserer Jugend. Denn in der Bundesverfassung steht: Im Bewusstsein der gemeinsamen Errungenschaften und in Verantwortung gegenüber der zukünftigen Generation.

Der griechische Philosoph Plato hat in weiser Voraussicht die heutige Situation in der Schweiz so beschrieben: »Those who tell the stories rule society« – Wer die Geschichten erzählt, der regiert die Gesellschaft. Das ist mit den Predigten der SVP passiert. Und wenn wir uns nicht ändern, ich zitiere wieder Plato, dann folgt: «The price good men pay for indifference to public affairs, is to be ruled by evil men» – der Preis, den gute Männer für ihre Gleichgültigkeit gegenüber der Politik bezahlen, ist es, von bösen Männern regiert zu werden.

Ich danke.»

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