Das Schuljahr in Bern ist gerade mal zwei Wochen jung, an einem Freitagmittag nippt der Klavierlehrer Felix Holler (52) an seinem Espresso. Er hat es nicht pressant. Und das ist das Problem: «Oft kann ich erst um 15.30 Uhr mit dem Unterricht beginnen.»
Grund für Hollers frustrierende Lage: Am Nachmittag fehlen ihm die Schüler. Nicht, weil es dem Nachwuchs seit ein paar Jahren an Musikbegeisterung mangelt – nein: seine Kundschaft drückt um diese Zeit einfach noch die Schulbank: «Der Lehrplan 21 führte für uns Musiklehrer zu einer Verschlechterung.» Holler selbst erfuhr in diesem Jahr eine ungewollte Pensenreduktion von rund 7,5 Prozent, nun fehlt ihm fast ein Monatslohn – mehr als 7000 Franken: «Die Schmerzgrenze ist erreicht.»
Agenda von Schweizer Schülern ist voll
Schweizer Schüler sind extrem beschäftigt. Nach dem Unterricht absolvieren viele ein Art Freizeitmarathon: Fussball, Unihockey, Ballett, und eben auch noch Geige, Klavier, Gitarre. Der Lehrplan 21 trug nicht zur Entspannung der Agenda bei.
Als die Bildungsdirektoren-Konferenz, die ihn verantwortet, die Jahre 2012 und 2018 miteinander verglich, stellte auch sie fest, «dass die Lektionenzahlen in einigen Kantonen gestiegen sind». Im Kanton Bern etwa sind das je nach Klasse bis zu sechs zusätzliche Lektionen pro Woche. Die Folgen: «In Kantonen, in denen die Gesamtlektionenzahl gestiegen ist», so die Bildungsdirektoren, «ist die Vereinbarkeit zwischen Schule und Freizeit sicher anspruchsvoller geworden.»
Anders gesagt: Die Agenda vieler Schüler ist voll. Und die Leidtragenden sind auch die Musiklehrer.
Grosse Konkurrenz bei Freizeitangeboten
Man habe verschiedene Rückmeldungen erhalten, dass die Stundenplangestaltung schwieriger geworden sei als in früheren Jahren, sagt Nicola von Greyerz, Präsidentin des Verbandes der bernischen Musikschulen. Dies kann schlimmstenfalls zu Härtefällen führen: Man wisse von Beispielen, bei denen «Schüler und Lehrerin kein Zeitfenster fanden und darum der Instrumentalunterricht fallen gelassen werden musste», sagt Greyerz.
Die Konkurrenz mit anderen Freizeitangeboten habe sich verstärkt. Auch der Berner Erziehungsdirektion ist «die Problematik bekannt». In anderen Kantonen wie etwa Luzern hat das Volksschulamt ebenfalls «solche Rückmeldungen» erhalten.
Freitagabend in Thun BE, Schulhaus Allmendingen, Dirigent Martin Schranz (52) probt mit seiner Blasmusik. Auch zwei Jugendliche spielen mit. Keine Selbstverständlichkeit in Zeiten der Nachwuchsprobleme: «Diese Entwicklung im Kanton zu beobachten, zerreisst mir fast das Herz», sagt Schranz. Auch er unterrichtet als Musiklehrer, auch er berichtet von einer Situation, die langsam dramatisch werde: «Jeder Musiklehrer muss sich überlegen, wie er überleben will.» Die unfreiwillige Siesta am Nachmittag, er kennt sie nur zu gut. Vollzeit zu unterrichten, sei fast nicht mehr möglich.
Es bleibt still am 1. August
Dieser Zustand führt zu einer Negativspirale: Je weniger Kinder ein Instrument beherrschen, desto weniger rücken in die Musikvereine nach – in einem Land wie der Schweiz, wo ohne Dorfmusik keine Jubiläumsfeier steigt, wo es vielerorts ohne Männerchor am 1. August still bleibt, ist dies eine fatale Entwicklung.
«Wo sonst kann ein 16-Jähriger zusammen mit einem 70-Jährigen das gleiche Hobby betreiben?», fragt Valentin Bischof, Präsident der Schweizer Blasmusiker.
Das gemeinsame Musizieren in Musikvereinen, Orchestern und Chören dient dem Zusammenhalt der Gesellschaft, ist Nicola von Greyerz überzeugt: «Wenn immer weniger Kinder ein Instrument beherrschen oder nicht mehr richtig singen lernen, dann geht dies verloren.»
Knappe Zeit, grosser hoher Leistungsdruck
Auch Bischof, oberster Blasmusiker des Landes, hat registriert, dass der Stundenplan dichter geworden ist. Wenn er an den neuen Lehrplan denkt, hat er gemischte Gefühle.
«Die Zeit am Nachmittag wird immer knapper, der Leistungsdruck aber immer grösser», sagt Anna Fintelmann von der Schweizerischen Chorvereinigung. Jeder Schüler müsse sich fragen, was er neben dem normalen Schulprogramm noch schaffe. «Irgendwann kommt der Punkt, wo zwischen den Aktivitäten ausgewählt werden muss», sagt sie. Diese Entwicklung habe sich über die Jahre verschärft.
Es gäbe Lösungen. Eine sieht vor, dass Schüler den Musikunterricht kompensieren dürfen. Allerdings nur in Bereichen, in denen sie «auch mit reduziertem Pensum deutlich mehr als die Grundansprüche erreichen», wie es in der Berner Verordnung heisst – kurz: Wer nicht talentiert ist, hat Pech. Was die Zahlen belegen: Bisher wurden im ganzen Kanton erst rund 200 solche Gesuche bewilligt, bei 20'000 Schülern.
Mehr Unterricht vormittags, weniger nachmittags
Vielleicht gibt es aber auch eine viel einfachere Lösung. Und die findet sich am Küchentisch der Familie Holler in Bern.
Der Vorschlag von Jan Holler, Bruder des Musiklehrers und Elternrat in Bern: «Mehr Unterricht am Vormittag, weniger am Nachmittag.» Wenn am Morgen fünf statt vier Lektionen unterrichtet würden, sei dies bereits hilfreich. Ohne Frühstunden, einfach durch Straffung des Programms. In der föderalistischen Schweiz seien es eben noch immer die Schulkommissionen, die am Stundenplan tüfteln können. Jan Holler: «Eine Organisationssache.»
Nächstes Schuljahr kann er beweisen, was sein Modell taugt. Die Schule der eigenen Kinder erhielt eine entsprechende Ausnahmegenehmigung.
Schweizer Kinder haben zu viel um die Ohren. Das merkt jeder, der selbst welche hat. Wer im Auftrag der Kleinen am Nachmittag spontan mit den Nachbarskindern abmachen will, fühlt sich wie der wunderliche ferne Verwandte, der bei der Queen um einen Termin anfragt: Ja, Mittwoch in vier Monaten würde passen. Aber nur zum Tee.
Das Nachbarskind muss entweder in die Geigenstunde, in den Ballettunterricht, zum Frühchinesisch oder zum Fussballfördertraining. Aber irgendwas haben alle los.
Meist sind es ja die Eltern, die im Filius einen neuen Mozart oder Maradona sehen. Und die Begabung entsprechend fördern wollen. Nun ist die Agenda nochmals enger geworden: Mit dem Lehrplan 21 verlangt vielerorts auch die Schule nach mehr Zeit.
Manche Schüler dürfen darum ab sofort die verhassten Frühstunden besuchen, um mit dem Pensum durchzukommen. Anderen werden die Nachmittage zugekleistert.
Das alles ist sehr bedauerlich. Schliesslich handelt es sich um Kinder – Spontaneität, Tagträumen oder Langeweile gehören zu dieser Lebensphase einfach dazu. Volle Terminkalender bekommen sie als Erwachsene früh genug.
Aber auch eine Gegenbewegung gibt es: Manche Eltern kämpfen wie die Löwen darum, den Mittwochnachmittag ihrer Kinder freizuhalten. Verständlich – aber verheerend für viele Musiklehrer, denen die Schüler ausbleiben und die zunehmend ihre Existenz gefährdet sehen.
Was tun? Man könnte ja mal die Kinder fragen.
Schweizer Kinder haben zu viel um die Ohren. Das merkt jeder, der selbst welche hat. Wer im Auftrag der Kleinen am Nachmittag spontan mit den Nachbarskindern abmachen will, fühlt sich wie der wunderliche ferne Verwandte, der bei der Queen um einen Termin anfragt: Ja, Mittwoch in vier Monaten würde passen. Aber nur zum Tee.
Das Nachbarskind muss entweder in die Geigenstunde, in den Ballettunterricht, zum Frühchinesisch oder zum Fussballfördertraining. Aber irgendwas haben alle los.
Meist sind es ja die Eltern, die im Filius einen neuen Mozart oder Maradona sehen. Und die Begabung entsprechend fördern wollen. Nun ist die Agenda nochmals enger geworden: Mit dem Lehrplan 21 verlangt vielerorts auch die Schule nach mehr Zeit.
Manche Schüler dürfen darum ab sofort die verhassten Frühstunden besuchen, um mit dem Pensum durchzukommen. Anderen werden die Nachmittage zugekleistert.
Das alles ist sehr bedauerlich. Schliesslich handelt es sich um Kinder – Spontaneität, Tagträumen oder Langeweile gehören zu dieser Lebensphase einfach dazu. Volle Terminkalender bekommen sie als Erwachsene früh genug.
Aber auch eine Gegenbewegung gibt es: Manche Eltern kämpfen wie die Löwen darum, den Mittwochnachmittag ihrer Kinder freizuhalten. Verständlich – aber verheerend für viele Musiklehrer, denen die Schüler ausbleiben und die zunehmend ihre Existenz gefährdet sehen.
Was tun? Man könnte ja mal die Kinder fragen.