Dass etwas nicht stimmt, merkte Alice Büttiker* vor einigen Jahren. Erst war da sein Desinteresse, gefolgt von zunehmender Aggression. Und dann schlug ihr Mann Heinz* plötzlich zu.
«Ich lebte daheim in ständiger Angst», erzählt die Seniorin. Besonders gefährlich wurde es, wenn ihr Mann etwas unbedingt wollte, aber nicht bekam. «Einmal, es war mitten in der Nacht, wollte er, dass ich an den Bankschalter gehe», erinnert sich die Seniorin. Die Erklärung, weshalb das zu dieser Tageszeit nicht möglich ist, akzeptierte Heinz nicht. Er schüttelte sie, boxte sie in die Seite. «Mein Oberarm war ganz blau», sagt Büttiker. Ein anderes Mal warf Heinz eine Gartenhacke nach ihr. «Nur haarscharf hat sie mich verfehlt.»
Bis 500'000 Senioren betroffen
Die zierliche Frau, um die 70, sitzt am Esstisch in ihrer Wohnung in einem Dorf irgendwo im Mittelland. Sie und ihr Mann, der inzwischen verstorben ist, heissen eigentlich anders. Büttiker ist wichtig, über das zu reden, was ihr widerfahren ist. Anonym. Um anderen Betroffenen Mut zu machen, sich Hilfe zu holen.
Gewalt gegen Senioren ist ein riesiges Problem – eines, das sehr häufig im Verborgenen bleibt. Das Nationale Kompetenzzentrum Alter ohne Gewalt hat vergangenes Jahr rund 360 Fälle bearbeitet. Der Bund aber geht davon aus, dass 300'000 bis 500'000 ältere Menschen in der Schweiz jährlich von Misshandlung betroffen sind.
Im Alter steigt das Risiko
«Gewalt im Alter ist noch immer ein Tabuthema», sagt Ruth Mettler (60), Geschäftsleiterin des Kompetenzzentrums und der unabhängigen Beschwerdestelle für das Alter (UBA), an die sich schliesslich auch Alice Büttiker gewandt hatte. Seniorinnen und Senioren seien besonders verletzlich. «Mit der Abnahme körperlicher und kognitiver Fähigkeiten nimmt das Risiko zu, von Gewalt betroffen zu sein.» Statistiken zeigten, dass der Missbrauch mehrheitlich zu Hause stattfinde – durch Partner, Familienangehörige oder auch externe Betreuungspersonen. Nicht immer wird jemand vorsätzlich zum Täter oder zur Täterin.
So wie im Falle von Alice Büttikers Mann. Der Grund dafür, dass er nach der Pensionierung plötzlich gewalttätig wurde, ist eine Krankheit: frontotemporale Demenz. Sie verändert die Persönlichkeit, macht Betroffene reizbar und enthemmt sie. Am meisten habe sie getroffen, wie er sie betitelt habe, erzählt Büttiker. Einen «faulen Saucheib» schimpfte er sie beispielsweise.
«Ich habe ihn trotzdem geliebt»
Und trotzdem: Sie hege keinen Groll gegen ihren Mann, sagt die Frau. Auf dem Regal in der Stube stehen Fotos von Heinz. «Ich habe ihn trotzdem geliebt. Ich wusste: Es ist die verdammte Krankheit.»
Büttiker liess die verbale und körperliche Gewalt nicht einfach über sich ergehen. Jahrelang setzte sich energisch dafür ein, dass ihrem Mann geholfen wird. Aber auch sie selbst war verzweifelt auf der Suche nach Hilfe. Lange vergebens. «Ich war ohnmächtig, weil sich nie jemand zuständig fühlte.» Erst die UBA, auf die sie nach Jahren stiess, stand ihr zur Seite.
Parlament wird aktiv
Die Behörden wissen um die besondere Gefährdung von Senioren. Doch tun sie genug, um Misshandlung zu verhindern und den Opfern zu helfen? Eine Studie der Hochschule Luzern im Auftrag des Bundes kam 2020 zum Schluss, dass die aktuellen Bemühungen nicht ausreichten. Es bestünden Lücken, die man schliessen müsse.
Der Bundesrat hatte daraufhin das Innendepartement und die Kantone beauftragt, Massnahmen zur Prävention von Gewalt gegen Senioren zu prüfen. Als es dann jedoch darum ging, für ein konkretes Programm Geld in die Hand zu nehmen, zog die Landesregierung die Reissleine. Aus Spargründen wurde das Projekt beerdigt.
Erledigt ist die Angelegenheit damit allerdings noch nicht. Der Nationalrat hat vergangenen Sommer einen Vorstoss der ehemaligen Mitte-Nationalrätin Ida Glanzmann (65) überwiesen. Er will die Regierung dazu zwingen, ein Impulsprogramm zur Prävention von Gewalt im Alter auf die Beine zu stellen. Das Ziel soll unter anderem sein, Senioren, Angehörige und Fachpersonen für Gewalt im Alter zu sensibilisieren und bisherige Präventionsprogramme auszubauen.
Nun kommts auf den Ständerat an
Es sei verantwortungslos, nichts zu tun, warf Glanzmann, die Ende 2023 zurückgetreten ist, dem Bundesrat vor. Dieser aber sieht die Kantone in der Verantwortung. Der Bund könne das Problem nicht lösen, sagte der damalige Gesundheitsminister Alain Berset (51) in der Nationalratsdebatte.
Ob der Bund in die Pflicht genommen wird und Geld für ein nationales Präventionsprogramm in die Hand nehmen muss, hängt nun vom Ständerat ab. Er entscheidet am Dienstag. Nur wenn auch er der Forderung zustimmt, muss der Bund aktiv werden.
Alice Büttiker hofft auf ein Ja – nicht für sich, sondern für andere (potenzielle) Opfer. Sie wünsche sich, dass man Betroffene wie sie ernst nehme, sagt sie. Es ist nicht nur Schmerz, sondern vor allem Wut, der aus ihrer Stimme spricht, wenn sie sagt: «Ich wurde so lange, lange im Regen stehen gelassen.»
* Namen geändert