Horst Seehofer hat Sorgen. Bei den bayrischen Landtagswahlen im Oktober fürchtet die Christlich-Soziale Union (CSU) um ihre absolute Mehrheit. Die rechtspopulistische Alternative für Deutschland (AfD) ist auch im konservativen Freistaat auf dem Vormarsch. Das will der CSU-Vorsitzende und deutsche Innenminister verhindern.
Der von Seehofer vom Zaun gebrochene Streit um die deutsche Flüchtlingspolitik könnte ihn in den nächsten Tagen das eigene Amt und Angela Merkel die Kanzlerschaft kosten. Die Grosse Koalition in Berlin ist in Gefahr. Die Europäische Union droht Schaden zu nehmen.
Doch Seehofer bleibt hart. Ganz oben auf der Welle fremdenfeindlicher Ressentiments soll ihn die Angst der Menschen zum Wahlsieg in München verhelfen.
Diese Angst hat Namen: Maria aus Freiburg. Mia aus Kandel. Zuletzt die 14-jährige Susanna aus Wiesbaden. Junge und selbstbestimmte, vor allem aber deutsche Mädchen und Frauen, die von verschmähten jungen Asylbewerbern zur Rettung ihrer verletzten männlichen «Ehre» ermordet wurden.
3177 Verkehrstote wurden im vergangenen Jahr in Deutschland gezählt. Etwa 9000 Personen kamen bei Haushaltsunfällen ums Leben. Nur ein einziges der 405 Mordopfer starb durch einen islamistischen Anschlag.
Aber das vom rechtspopulistischen Lager betriebene Spiel mit der gefühlten Angst vor dem Kontrollverlust des Staates funktioniert: 70 Prozent der Deutschen fürchten inzwischen, bei einem islamistischen Attentat ums Leben zu kommen.
Da hilft es wenig, dass viele praktische Antworten auf diese Ängste längst auf dem Tisch liegen. Zum Beispiel die Datenbank Eurodac, an der auch die Schweiz beteiligt ist. Eurodac soll Asylanträge in gleich mehreren Ländern oder unter verschiedenen Namen verhindern.
Die meisten Experten sagen zwar, dass das System funktioniert. Aber Innenminister Seehofer plant mehr. Er will Asylbewerber in sogenannten Ankerzentren kasernieren. Die Entscheidungsprozesse sollen verschlankt und abgelehnte Bewerber sofort wieder abgeschoben werden. Wer straffällig wird, verliert sein Bleiberecht. Hoffnung auf Asyl gibt es nur für politisch Verfolgte und Kriegsopfer. Die EU soll zum Bollwerk gegen Armutsmigranten mutieren.
Für all das braucht Seehofer die Rückkehr zur sogenannten Dublin-Regel: Das erste EU-Land, das Migranten betreten, muss über ihre Zukunft entscheiden.
Ein Blick auf die Landkarte genügt: Die Hauptlast der Migrationswelle läge wieder bei den EU-Mittelmeerstaaten Griechenland, Italien und Spanien. Mit Geldern aus Brüssel allein konnten schon die Probleme des grossen Flüchtlingstrecks über den Balkan nach Westeuropa nicht kompensiert werden. Angesichts der Bilder von 2015 beharrt Kanzlerin Merkel auf einer gesamteuropäischen Lösung.
Ihr Minister Seehofer verlangt stattdessen sofortige nationale Lösungen. Sein Flüchtlingsmasterplan sieht die Auslese illegaler Asylbewerber und Migranten bereits an der deutschen Grenze vor.
Das würde direkt auch die Schweiz betreffen. Etwa die Hälfte derer, die es in die eidgenössischen Aufnahmelager schaffen, setzt sich bald nach ihrer Ankunft nach Deutschland ab. Sie alle müssten zurück in die Schweiz!
Doch zunächst einmal will Seehofer mit Österreichs Kanzler Sebastian Kurz und dem neuen italienischen Innenminister Matteo Salvini nach bilateralen Lösungen suchen. Der ist Chef der offen fremdenfeindlichen Lega. Aber das stört offenbar ebenso wenig wie der von Kurz geprägte und historisch zumindest unglückliche Name einer «Achse der Willigen» von Berlin über Wien nach Rom.
Schon jetzt ist klar: Salvini will die in Italien gestrandeten Migranten in Lagern etwa in Libyen konzentrieren – wo Folter, Vergewaltigungen und Sklaverei an der Tagesordnung sind.
Ausserdem hat Rom langjährige Erfahrungen mit der Umgehung der Dublin-Regeln: Migranten, die nicht in der Datenbank Eurodac erfasst sind, muss Italien auch nicht zurücknehmen.
Dann wissen auch Seehofer & Co nur noch einen Rat: national bewachte Grenzzäune. Das Ende der im Schengenvertrag geregelten Freizügigkeit – das Ende sogar der EU?
Die Weichen der Krise werden in Berlin und München gestellt. Die nächsten Tage werden zeigen, ob die Machtreserven von Angela Merkel noch für einen Kompromiss reichen. Wenn nicht, dann sind Neuwahlen so gut wie sicher.
Dann könnte die AfD mit rund 20 Prozent der Wählerstimmen rechnen.