Foto: Philippe Rossier

Der freisinnige Tessiner alt Ständerat ist der Kopf der Konzernverantwortungs-Initiative
Der letzte Kampf des Dick Marty

Einmal noch will Dick Marty (74) den Berner Politbetrieb aufmischen. Als Kopf der Konzernverantwortungs-Initiative legt sich der Tessiner alt Ständerat und Ex-Staatsanwalt nicht zuletzt mit seiner eigenen Partei an. Das Porträt eines Verdrossenen.
Publiziert: 12.06.2019 um 17:16 Uhr
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Ein Leben als Kämpfer: Der Tessiner...
Foto: Philippe Rossier
Cinzia Venafro (Text), Philippe Rossier (Foto)

Gefürchtet, geschätzt, belächelt, bewundert: Dick Marty (74) widerfuhr in seinem Leben so ziemlich alles. Jetzt bäumt sich das frühere Schlachtross des Tessiner Freisinns nochmals auf: Im Kampf gegen Multis will der kontroverse Kämpfer den Schweizer Politbetrieb ein letztes Mal aufmischen.

Schnaufend trifft der alt Ständerat in der Berner Franzini Bar ein, wo BLICK zum Gespräch trifft. Er schimpft gleich mal drauflos: «Unfassbar! Die müssen gar nicht meinen...», sagt der einstige Tessiner Staatsanwalt. «Wir werden nicht müde. Wir sind bereit für den Kampf.»

Kämpfen wird Marty diese Woche - von den Zuschauerrängen der grossen Parlamentskammer aus. Am Donnerstag berät der Nationalrat sein Altersvermächtnis, die Konzernverantwortungs-Initiative.

Die Konzernverantwortungs-Initiative

Die Konzernverantwortungs-Initiative fordert, dass international agierende Unternehmen mit Sitz in der Schweiz für die Verletzung von Menschenrechten und internationalen Umweltstandards haftbar gemacht werden können. Kakao für Schoggi darf nicht unter ausbeuterischen Arbeitsbedingungen geerntet werden, Kupferminen in Afrika dürfen die Arbeiter und die Umwelt nicht vergiften. Tun sie es trotzdem, müssen die Schweizer Mutterkonzerne dafür geradestehen.

Eingereicht hat die Initiative eine Allianz aus NGOs wie Amnesty International und Greenpeace. Angeführt von Dick Marty, legen sie sich mit den Wirtschaftsverbänden wie Economiesuisse, dem Gewerbeverband und nicht zuletzt mit Martys Partei, der FDP, an.

Die Konzernverantwortungs-Initiative fordert, dass international agierende Unternehmen mit Sitz in der Schweiz für die Verletzung von Menschenrechten und internationalen Umweltstandards haftbar gemacht werden können. Kakao für Schoggi darf nicht unter ausbeuterischen Arbeitsbedingungen geerntet werden, Kupferminen in Afrika dürfen die Arbeiter und die Umwelt nicht vergiften. Tun sie es trotzdem, müssen die Schweizer Mutterkonzerne dafür geradestehen.

Eingereicht hat die Initiative eine Allianz aus NGOs wie Amnesty International und Greenpeace. Angeführt von Dick Marty, legen sie sich mit den Wirtschaftsverbänden wie Economiesuisse, dem Gewerbeverband und nicht zuletzt mit Martys Partei, der FDP, an.

Wieso tut Marty so etwas? «Es ist eine Frage der Gerechtigkeit. Und für diese kämpfen wir, auch wenn es gegen gewisse Interessen der FDP ist», sagt er. Sein Trumpf: Mit Migros und Coop hatte er Riesen der hiesigen Wirtschaft mit einer abgeschwächten Version der Initiative im Boot. Sie befürworteten den Gegenvorschlag der Nationalrats-Kommission. «Das beweisst: Wir sind nicht Gegner der Schweizer Wirtschaft. Aber wir sind die Gegner von Economiesuisse, Glencore und Konsorten», sagt Marty.

«Ohne Regulierung machen Banditen, was Banditen halt so tun»

Das Problem in seinen Augen: «Internationale Konzerne sind immer mehr in den Händen von Aktionären, die nur den kurzfristigen Profit wollen. Die spekulieren einfach, die denken nicht an morgen, geschweige denn an übermorgen.»

Marty leert das zweite Fläschchen Schweppes und redet sich in Rage. «Selbstregulierung!», höhnt er. Die Gegner seines Volksbegehrens - etwa FDP-Ständerat Ruedi Noser (57) - argumentieren, internationale Firmen würden sich selber regulieren und so sicherstellen, dass ihre Geschäfte ausserhalb der Schweiz hiesige Menschenrechts- und Umweltschutzbestimmungen einhalten.

«Ach, kommen Sie, ich war Staatsanwalt. Ich habe gesehen, wie diese Selbstregulierung funktioniert», entgegnet Marty. «Das haben sie uns damals auch beim Bankgeheimnis und bei der Geldwäscherei gesagt. Und ja: 80 Prozent der Banken haben sich selbst reguliert und korrekt verhalten. Aber 20 Prozent waren Banditen, machten ohne Regulierung, was Banditen halt so tun. Sonst wären es keine Banditen.»

Hört man Dick Marty zu, glaubt man kaum, dass hier ein Vertreter der FDP spricht. Einst Tessiner Staatsanwalt im Kampf gegen die Mafia, dann Regierungs- und Ständerat, hat Marty alle drei Institutionen der rechtsstaatlichen Gewaltentrennung «durchgemacht», wie er das nennt. Und überall passte er nicht wirklich hinein. Er sei schon immer «ein Störer» gewesen, sagt Marty gerne über sich. Er wäre ein schlechter Soldat, wiederholt er oft. Dem Hundeliebhaber gefällt sein Image als Aussenseiter.

OSZE-Chef Greminger: «Dick Marty ist visionär, mutig!»

Damit stiess Marty immer auch auf Unverständnis oder gar Ablehnung, auch in den eigenen Reihen. Heute ist das nicht anders. Parteikollege Ruedi Noser zum Beispiel findet es «komisch», dass Dick Marty sich hier einspannen lässt. «Denn diese Initiative bringt am Ende mehr Unglück. Die Schweizer Wirtschaft muss sich nicht verstecken, sie hat mehr Armut beseitigt als all diese NGOs zusammen», sagt der Zürcher FDP-Ständerat.

Doch es gibt auch Freisinnige, die Martys Eigensinn schätzen: «Mir waren gescheite Schwierige immer lieber als dumme Folgsame. Und Dick Marty war schon als Tessiner Staatsanwalt unbequem und ausserordentlich selbständig», sagt beispielsweise der frühere FDP-Präsident Franz Steinegger (76) heute über ihn.

Auch international machte Marty von sich reden. Er war es, der in einem Bericht den heutigen kosovarischen Staatspräsidenten Hashim Thaci (50) des Organhandels während des Balkankrieges beschuldigte. Er konnte das bis heute nicht vollkommen beweisen.

Wird der Mann verklärt, dem der Ruf des Querdenkers von Bern bis Brüssel vorauseilt? Sicher ist: Ausserhalb der Schweiz geniesst Dick Marty bis ganz oben grossen Respekt. So sagt etwa Landsmann Thomas Greminger (57), Generalsekretär der OSZE und somit oberster Friedenssicherer Europas: «Dick Marty ist ein international hochprofilierter Schweizer, visionär, mutig!»

Bundesrat Cassis ist sein Intimfeind

Und Marty selbst? Fragt man ihn nach seinem Selbstverständnis, antwortet der Vater dreier Töchter und Nonno von acht Enkelkindern mit Kindheitserinnerungen: Weil er so schlechte Augen hatte, durfte er als kleiner Junge die ersten Jahre nicht in die normale Schule. Erst als ihn seine Mutter nachts lesend mit der Taschenlampe unter der Bettdecke erwischte, entschied die Familie, dass der handicapierte Ragazzino doch nicht «nur» Förster werden durfte.

Und dann ist er auch noch «als einziger reformierter Bub im katholischen Tessin der 50er-Jahre» aufgewachsen. «Ich und der Jude mussten das Schulzimmer verlassen, wenn der Pfarrer kam. Und Sie können mir glauben», sagt Marty, «il prete veniva spesso - der Pfarrer kam des Öfteren.»

Tessiner und FDPler - das sind die einzigen zwei Prädikate, die Dick Marty mit Aussenminister Ignazio Cassis (57) verbinden. Zwar sieht sich der Magistrat Cassis, der als Bub einen Finger verlor und wegen seiner Brille als «Quattrotsch» - als «Vieräugiger» - gehänselt wurde, auch gern als Kämpfer für liberale Werte mit sozialem Antlitz. Unvergessen seine Antrittsrede als Bundesrat, als er die Kommunistin Rosa Luxemburg zitierte und sagte: «Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden.»

In der Praxis sah diese Freiheit dann so aus: Im Januar flog Bundesrat Cassis ins südliche Afrika, nach Sambia, und liess sich mit gelber Leuchtweste auf der Brust durch eine Mine des Rohstoffgiganten Glencore führen. Jener Firma, die sich in den Augen Dick Martys ausserhalb der Schweiz wie die Inkarnation des Bösen gebärdet.

«Cassis liess sich instrumentalisieren. Sein Besuch in Sambia wurde in den Hinterzimmern jener wirtschaftlichen Kreise, die gegen unsere Initiative sind, eingefädelt», behauptet Marty. Der Zeitpunkt sei nicht zufällig gewählt gewesen. «Wir sind mitten in der parlamentarischen Debatte, Firmen wie Glencore unter Schweizer Recht zu stellen, und Cassis schlendert just durch eine Glencore-Mine. Da kann sich jeder einen Reim drauf machen.»

Das EDA behauptet das Gegenteil: Bundesrat Cassis habe selbst entschieden, die Kupfermine zu besuchen. Er habe sich ein Bild davon machen wollen, wie in diesen Minen generell und bei der Glencore-Mine Mopani im Besonderen gearbeitet wird.

«Die Wirtschaft hat die Politik verdorben»

Doch Marty klagt an: Dieser Besuch sei «mehr als stillos», gewesen. «Kein anderer Bundesrat hätte das gemacht. Sommaruga nicht, auch Parmelin wäre nie zur Glencore-Werbefigur geworden.» ((Mit der Aussage spielt er auf einen Post von Cassis an, den dieser samt Foto von sich in gelber Warnweste in Sambia vertwittert hatte. «Beeindruckt von den Bemühungen zur Modernisierung von Einrichtungen und zur Ausbildung junger Menschen.» Die Presseabteilung von Glencore verbreitete das bundesrätliche Statement dankbar weiter.))

«Wissen Sie, früher herrschte in der Politik noch eine gewisse Ethik. Aber wirtschaftliche Interessen und Gier haben die Politik und ihre Akteure verdorben», sagt Marty und sinkt noch tiefer in seinen Samtsessel hinein. Er spüre eine Politikverdrossenheit in sich, gibt er zu.

Der Mann, der alle staatlichen Institutionen von innen erlebt hat, hadert mit der Rechtsstaatlichkeit als Ganzes und dem Menschen als Einzelnen. Ja, je älter er sei, desto mehr werde ihm bewusst, dass Tiere weniger grausam seien als die Menschen.

Wieso also dieser letzte Kampf? Trotz Verdruss und Frustration bereitet er sich auf einen harten Abstimmungskampf vor, gründet regionale Initiativkomitees, versucht sich - «nicht wirklich gut» -  als Lobbyist seiner Initiative in Bern.

Fragt man ihn gegen Ende des Gesprächs abermals nach dem Warum, antwortet er mit einem Zitat von Antonio Gramsci, dem Gründer der Kommunistischen Partei Italiens. «Die schlimmste Gefahr für eine Gesellschaft sind der Individualismus und die Gleichgültigkeit», sagt Marty. «Und ich hasse die Gleichgültigkeit.»

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