David Loher (56) sucht seit einem Jahr eine Stelle, als plötzlich das Telefon klingelt. Am Apparat ist Daniel Steimer, Inhaber des Temporärbüros West Personal, das auf den Verleih von Bahnpersonal spezialisiert ist. Er stellt Loher eine Anstellung bis zur Pension samt bezahlter Ausbildung in Aussicht.
«Ich staunte nicht schlecht», sagt Loher, als ihn BLICK zu Hause in Montlingen SG trifft. Der Grund für das plötzliche Interesse des Personalbüros: Der ehemalige Zugbegleiter verfügt über den Rangierleiter-Ausweis. Er ist also vom Bundesamt für Verkehr (BAV) dafür zugelassen, dem Lokführer beim Rangieren Anweisungen zu geben. Und Rangierleiter sind auf Gleisbaustellen derzeit sehr gefragt.
Am ersten Tag auf den Riesenrangierbahnhof
Umgehend wird Loher zum Bewerbungsgespräch eingeladen – und erhält auch prompt eine Zusage. «Wenige Tage später rief Steimer mich an und sagte, er habe schon einen Einsatz für mich. Ich solle schon am nächsten Samstag anfangen.» Loher willigt ein – obwohl er zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal den Arbeitsvertrag gesehen, geschweige denn unterschrieben hat.
Sein erster Arbeitstag führt Loher auf den Rangierbahnhof Limmattal, einen der grössten Europas. Als Rangierleiter soll er den Lokführer eines Baustellenzugs mit Waggons voller Schotter an die richtige Stelle lotsen.
«Ich musste sofort loslegen», berichtet Loher, «ohne Einweisung oder Vorbereitung!» Dafür habe sich offenbar niemand zuständig gefühlt: weder sein Arbeitgeber West Personal noch die Gleisbaufirma Sersa, an die er verliehen wurde.
«Heillos überfordert»
«Ich war heillos überfordert», sagt Loher offen. Denn er rangiert sonst nur sporadisch Personenwaggons für einen Veranstalter von Event-Zugreisen. Im Gegensatz zum Manövrieren auf Gleisbaustellen stets penibel vorbereitet und auf kleineren Bahnhöfen, nie unter Zeitdruck und immer zusammen mit einem ortskundigen Rangierer.
Nur mit viel Hilfe des Lokführers übersteht Loher seinen ersten Einsatz. Dann, zwei Tage später, passiert es: Loher soll nachts auf der SBB-Baustelle zwischen Sempach LU und Sursee LU rangieren. Auch das ein Novum für ihn. Und auch hier, sagt Loher, sei er von niemandem eingewiesen worden.
Zweimal baut Loher nur um Haaresbreite keinen Unfall. Zuerst vergisst er eine Bremsvorrichtung unter dem Rad eines Waggons – der Zug schleift sie funkensprühend mit. Beinahe hätte er so eine Weiche aufgeschlitzt: «Das hätte teuer werden können.»
Kurz später hängt Loher einen Wagen ab. Doch der kommt ins Rollen – die verbundenen Bremsschläuche zerreissen fast. Er hat vergessen, sie zu trennen. Ein dummer Fehler, das weiss Loher: «Mir wurde endgültig klar, dass das Arbeiten auf der Baustelle nichts für mich ist. Ich wollte nicht mehr.»
SBB-Sicherheit muss einschreiten
Loher will die Reissleine ziehen und ruft bei seinem Chef Steimer an: «Ich beichtete ihm meine Fehler und sagte ihm, ich wolle aufhören.» Er sei der Arbeit nicht gewachsen, und es gehe ihm zu schnell, sagt Loher. Doch Steimer will davon nichts wissen: Da er keine «negative Rückmeldung» des Kunden erhalten habe, überredet er Loher, weiterzumachen.
Die SBB-Sicherheitsleitung bekommt von beiden Beinaheunfällen erst zwei Tage später Wind, räumt ein SBB-Sprecher ein. Loher wird von einem Sicherheitsdelegierten der Securitrans von der Baustelle gewiesen. Das kommt Loher gerade recht: «Ich war froh, dass die Securitrans das in die Hand nahm.» Kurz später kündigt er.
Offene Fragen – keine Antworten
Der Fall wirft Fragen auf. Wieso wurde Loher überhaupt für diese Aufgabe eingesetzt? Wieso wurde er nicht anständig eingewiesen? Und wieso zog bis zuletzt niemand die Notbremse? Die Beteiligten schieben sich gegenseitig den Schwarzen Peter zu.
Daniel Steimer, der Inhaber von West Personal, sieht primär Temporärarbeiter Loher in der Pflicht: «Hat er keine Bahnhof- oder Baustellenkenntnisse, so ist er verpflichtet, dies umgehend dem diensthabenden Rangierleiter mitzuteilen!» Tue er das nicht, verstosse er gegen die Vorschriften.
Die SBB dagegen machen die Gleisbaufirma Sersa und West Personal verantwortlich. Es sei Pflicht des Arbeitgebers, seine Mitarbeiter gemäss deren Kompetenzen, Ausbildung und Fähigkeiten auf geeigneten Baustellen einzusetzen.
«Wenn sich die Ereignisse so wie beschrieben zugetragen haben, akzeptieren die SBB das nicht.» Man werde Sersa informieren und «wenn nötig» Konsequenzen ziehen. Ein Ende der Zusammenarbeit kommt für die SBB aber nur infrage, wenn es «immer wieder zu solchen Vorkommnissen» kommen würde.
Die Sersa wiederum findet, nichts falsch gemacht zu haben. Sie habe sichergestellt, dass Loher über die für seine Aufgabe benötigte Bescheinigung verfüge. Man habe zudem gar nichts von den Beinaheunfällen gewusst, da man nicht für die Baustelle in Sursee verantwortlich sei. «Wären uns die Vorfälle bekannt gewesen, hätten wir David Loher kaum noch weiterarbeiten lassen.»
Das Geschäft mit dem Personalverleih floriert. Seit 1995 habe sich die Zahl der Temporärarbeiter mehr als verfünffacht, rechnet der Schweizer Gewerkschaftsbund (SGB) vor. Letztes Jahr stemmten Temporäre bereits 2,6 Prozent des Schweizer Arbeitsvolumens.
Die Gewerkschaften sind alarmiert. Denn Temporär- seien gegenüber Festangestellten «deutlich benachteiligt». Wegen der kurzen Einsatzdauer und häufiger Wechsel setzten sie sich einem höheren Unfallrisiko aus als ihre festangestellten Arbeitskollegen.
Zudem verdienten Temporärangestellte oftmals weniger als Festangestellte mit derselben Arbeit: «Sie werden häufig nur zu Mindestlöhnen angestellt», so der SGB. Kommt noch hinzu, dass in rund einem Drittel der Lohnkontrollen Verstösse gegen den Gesamtarbeitsvertrag festgestellt wurden.
SGB fordert schärfere Regeln
Für den SGB gibt es nur eine Lösung: «Temporärarbeit muss eingedämmt werden!» Dazu sollen strengere Regeln her.
So fordert der SGB, dass Temporäre künftig zu denselben Bedingungen angestellt sein müssen wie ihre festangestellten Kollegen. Zudem sollen sie nach sechs Monaten in einem Einsatzbetrieb Anspruch auf eine Festanstellung haben.
Temporärarbeit sei «Bedürfnis der Gesellschaft»
Anders sieht das Swissstaffing, der Branchenverband der Personalverleiher: «Flexibles Arbeiten ist ein wachsendes Bedürfnis in Gesellschaft und Wirtschaft», heisst es dort. Und schaffe Arbeitssuchenden den Zugang zum Arbeitsmarkt. So haben gemäss Swissstaffing im letzten Jahr rund 240'000 Arbeitslose durch die Temporärarbeit eine Anstellung gefunden. Und die Hälfte der Temporären habe innerhalb von 24 Monaten nach dem ersten Einsatz eine Festanstellung gefunden. Ausserdem, so betont der Verband, seien die Minimallöhne seit 2012 stets erhöht worden.
Gewerkschafter widersprechen
Dieser Darstellung widerspricht der SGB: «Die Mehrheit der Temporärbeschäftigten arbeitet unfreiwillig temporär!» Sogar eine Studie von Swissstaffing zeige, dass 57 Prozent der Befragten nur mangels Alternativen temporär arbeiten.
Und: «Die Hoffnung, über den Temporärjob eine Dauerstelle zu finden, wird meist enttäuscht», so der SGB. Denn der weitaus grösste Teil der Firmen setze Temporärarbeit nur «zur Deckung des kurzfristigen Personalbedarfs» ein. (pro)
Das Geschäft mit dem Personalverleih floriert. Seit 1995 habe sich die Zahl der Temporärarbeiter mehr als verfünffacht, rechnet der Schweizer Gewerkschaftsbund (SGB) vor. Letztes Jahr stemmten Temporäre bereits 2,6 Prozent des Schweizer Arbeitsvolumens.
Die Gewerkschaften sind alarmiert. Denn Temporär- seien gegenüber Festangestellten «deutlich benachteiligt». Wegen der kurzen Einsatzdauer und häufiger Wechsel setzten sie sich einem höheren Unfallrisiko aus als ihre festangestellten Arbeitskollegen.
Zudem verdienten Temporärangestellte oftmals weniger als Festangestellte mit derselben Arbeit: «Sie werden häufig nur zu Mindestlöhnen angestellt», so der SGB. Kommt noch hinzu, dass in rund einem Drittel der Lohnkontrollen Verstösse gegen den Gesamtarbeitsvertrag festgestellt wurden.
SGB fordert schärfere Regeln
Für den SGB gibt es nur eine Lösung: «Temporärarbeit muss eingedämmt werden!» Dazu sollen strengere Regeln her.
So fordert der SGB, dass Temporäre künftig zu denselben Bedingungen angestellt sein müssen wie ihre festangestellten Kollegen. Zudem sollen sie nach sechs Monaten in einem Einsatzbetrieb Anspruch auf eine Festanstellung haben.
Temporärarbeit sei «Bedürfnis der Gesellschaft»
Anders sieht das Swissstaffing, der Branchenverband der Personalverleiher: «Flexibles Arbeiten ist ein wachsendes Bedürfnis in Gesellschaft und Wirtschaft», heisst es dort. Und schaffe Arbeitssuchenden den Zugang zum Arbeitsmarkt. So haben gemäss Swissstaffing im letzten Jahr rund 240'000 Arbeitslose durch die Temporärarbeit eine Anstellung gefunden. Und die Hälfte der Temporären habe innerhalb von 24 Monaten nach dem ersten Einsatz eine Festanstellung gefunden. Ausserdem, so betont der Verband, seien die Minimallöhne seit 2012 stets erhöht worden.
Gewerkschafter widersprechen
Dieser Darstellung widerspricht der SGB: «Die Mehrheit der Temporärbeschäftigten arbeitet unfreiwillig temporär!» Sogar eine Studie von Swissstaffing zeige, dass 57 Prozent der Befragten nur mangels Alternativen temporär arbeiten.
Und: «Die Hoffnung, über den Temporärjob eine Dauerstelle zu finden, wird meist enttäuscht», so der SGB. Denn der weitaus grösste Teil der Firmen setze Temporärarbeit nur «zur Deckung des kurzfristigen Personalbedarfs» ein. (pro)