Wahl- und Jubiläumsjahre sind nervöse Zeiten. Fällt beides zusammen wie heuer – 2015 sind National- und Ständeratswahlen, wir feiern das Gedenken an Morgarten (1315), Marignano (1515) oder den Wiener Kongress (1815) –, herrschen Hoch-Zeiten für Ideologen: Zahlreich wie nie postieren sie sich derzeit um die Schweizer Geschichte und deren Mythen.
Da ist die nationalkonservative Rechte, die unbeirrt das Bild einer unabhängigen, ja fast autistisch-autarken Schweiz bespielt, mit Christoph Blocher als Bannerträger. Der Vordenker der SVP scheint heute zu verdrängen, dass er es war, der nach dem Unabhängigkeit suggerierenden EWR-Nein im Jahr 1992 dem Land die bilateralen Verträge aufgezwungen hat, ein dichtes Geflecht von Abmachungen mit der EU also, für die er einst auch selbst eintrat und die er heute als kündbar erachtet.
Da ist die Linke, für die es vor der modernen Schweiz 1848 keine für heute noch relevante Schweizer Geschichte gegeben hat, und die sich inzwischen eher internationalistisch denn nationalistisch gebärdet. Dann ist da noch eine neue Studentengeneration, die in den 1970er- und 1980er-Jahren in die Historischen Seminare der Universitäten geströmt war, um das rückwärtsgewandte Geschichtsbild der damals tonangebenden Professoren zu korrigieren, und heute mit der Lust der Dialektik Schweizer Heldengeschichten zertrümmert.
Wir streiten um Marignano und die Frage, ob diese Niederlage der alten Eidgenossen in der Lombardei die Wurzel der Neutralität des Landes markiert oder eben nicht. Wir debattieren darüber, ob der Rütli-Rapport von General Henri Guisan die Unabhängigkeit des Landes dank totaler Wehrbereitschaft im Zweiten Weltkrieg markiert oder eben nicht.
«Vorteil Schweiz»
Christoph Mörgeli twitterte gestern, «diese ‹Zweihunderter› wollen uns zur EU-Rechtskolonie machen». Er meinte damit einen Verein namens «Vorteil Schweiz», der sich eben gebildet hat, um die bilateralen Verträge mit der EU zu retten. Der SVP-Hofhistoriker beweist damit ideologisches Geschichtsbewusstsein, indem er diesen Verein mit der «Eingabe der Zweihundert» vergleicht, germanophilen Schweizern, die 1940 nach dem Fall Frankreichs eine verstärkte Anpassung der Schweiz an das nationalsozialistische Dritte Reich forderten.
Derartige, historisch unhaltbare Vergleiche treffen den Kern der für das Land existenziellen Fragen nicht. Diese lauten: Wie viel Unabhängigkeit erträgt die Schweiz? Wie viel Abhängigkeit ermöglicht der gesellschaftliche Zusammenhalt des Landes?
Es ist keine Historikerin, sondern eine Geografin, die kürzlich unaufgeregt und jenseits aller Ideologien auf solche zentralen Fragen Antworten gesucht hat. «Die Schweiz – oder die Kunst der Abhängigkeit» heisst das schmale, im NZZ-Verlag erschienene Bändchen der Westschweizer Journalistin Joëlle Kuntz. Im Vorwort schreibt der ehemalige Schweizer Botschafter Benedikt von Tscharner: «Unabhängigkeit ist nicht das Gegenteil von Abhängigkeit, Völkerrecht zerstört nicht die Souveränität.»
Nach diesem Raster durchkämmt die Autorin die Schweizer Geschichte. Den Schwur von 1291 taxiert sie als einen «nützlichen Mythos», aber einen «für das Mittelalter banalen Vorgang», ein Bündnis wie viele zur «Verteidigung von kommerziellen und Sicherheitsinteressen».
Der Begriff der Souveränität taucht in der Schweiz erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts auf, und bis zur Trennung des Landes vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation 1803 ist die Schweiz nie unabhängig, sondern nistet sich, ausgestattet mit Reichsprivilegien, im Vorzimmer der Unabhängigkeit ein, die sie formell am Wiener Kongress 1815 von den europäischen Grossmächten zugesprochen erhält.
Unabhängigkeit wurde nicht erkämpft
«Die Schweizer erkämpften sich 1815 ihre Unabhängigkeit also nicht», urteilt Joëlle Kuntz, «sie wurde ihnen vielmehr auferlegt, und die damit verbundene Neutralität war eine Neutralisierung.»
Nach dem Sonderbundskrieg geben sich die Schweizer im Schnelltempo eine bundesstaatliche Verfassung – die Geburt der modernen Schweiz. Die Grossmächte schauen tatenlos zu, sie haben andere Sorgen. Statt in die Schweiz einzumarschieren, «müssen sie zu Hause die Revolutionen unterdrücken» – und die Eidgenossen können es sich erlauben, sich jede Einmischung von aussen zu verbitten. Immerhin tun sie das auch lautstark.
Diese Melange aus Abhängigkeit und Souveränität bleibt das Erfolgsrezept des Kleinstaates Schweiz bis zum Ende der bipolaren Welt Anfang der 1990er-Jahre. Im Zweiten Weltkrieg etwa sind die Schweizer geeint wie selten zuvor. Joëlle Kuntz sieht in diesem kollektiven Bewusstsein des Widerstands gar «eine Art von Neugründung der nationalen Unabhängigkeit» der Schweiz.
Zumindest bis der Bergier-Bericht 2002 offenbart, dass auch hier Souveränität und Abhängigkeit, Widerstand und Kollaboration das Überleben der Nation gesichert haben. Wer wollte das kritisieren?