Das sagen Schweizer Kurden über den Krieg
«Ich hoffe, dass ihr Europäer so etwas nie erleben müsst»

Zurzeit schlafen viele Kurden in der Schweiz wenig und rauchen zu viel. Fassungslos verfolgen sie den Krieg Erdogans in Syrien. Machen können sie nichts. Tatenlos zusehen auch nicht. Darum gehen sie auf die Strasse.
Publiziert: 20.10.2019 um 09:16 Uhr
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Aktualisiert: 21.10.2019 um 10:27 Uhr
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Die Kurden wollen sich in der Schweiz Gehör verschaffen. Hier in Bern.
Foto: STEFAN BOHRER
Aline Wüst

Die chinesische Touristin lässt sich nicht beirren. Stoisch fotografiert sie Wurst und Käse am Berner Wochenmarkt. Kein Blick zu den Kurden, die an den Marktständen vorbei zum Bundeshaus ziehen. «Terrorist Erdogan!», schreien sie. Auch die Kinder.

So kennen wir sie, die Kurden: auf der Strasse. Immer am Demonstrieren.
Eine Berner Mutter ist genervt. Das Flugblatt will sie nicht. Sie will weitergehen, packt ihre Tochter an der Hand, boxt sich durch die ­Demonstrierenden in die Berner Spitalgasse hinein. «Rojava», schreien die Kurden.

Etwas früher am vergangenen Mittwoch in Kleinbasel, kurdisches Kulturzentrum. Hier treffen sich Kurden, die gerade erst aus der ­Türkei geflohen sind, und Kurden, die schon lange in der Schweiz leben, deren Kinder hier geboren sind. «Komm, iss!», sagt die Frau mit langem Zopf. Auf dem Tisch Wurst, Käse und Spiegeleier. Sie reisst das ­Baguette entzwei. «Iss!» Wir essen, schweigen. Der Mann im Fernseher spricht. Es läuft nur ein Programm – Krieg. Draussen scheint die Sonne auf die Müllheimerstrasse.

Die meisten der Frühstückenden sind aus der nahen Asylunterkunft. Seit ein paar Wochen erst hier. Sie kommen aus der Türkei, sind vor Erdogan geflohen. Eine Frau mit kurzem Haar redet und redet auf mich ein. Kurdisch. Sie kreuzt ihre Handgelenke. «Prison», übersetzt ein 34-Jähriger die unmissverständliche Geste, sagt – «sie war im Gefängnis.» Es ist nichts, was hier am Frühstückstisch die Aufmerksamkeit der anderen erregen könnte. Zu gut kennen sie das alles ­selber. Man konzentriert sich aufs Spiegelei.

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Sie sind persönlich vom Krieg betroffen

Später wird Ali (44) aus Riehen BS dazustossen. Er ist vor neun Jahren aus der Türkei geflohen, betreibt nun hier eine Reinigungsfirma. Er zeigt einen Whatsapp-Dialog von letzter Woche mit einem kurdischen Freund aus der Türkei. Ali übersetzt die Nachrichten, schreibt sie auf ein Blatt Papier, schiebt es über den Tisch. «Sie drohen Frauen mit Vergewaltigungen, sie zerren Menschen aus den Häusern», steht auf dem weissen Blatt.

In Basel leben viele Kurden. Das Lokal an der Müllheimerstrasse ist ihr Treffpunkt. Hier hängen gerahmte Fotos von Märtyrern an der Wand, hier gibt es kurdisches Essen – und Freunde.

Vor neun Tagen hat US-Präsident Trump seine Truppen aus Nord­syrien abgezogen. Seit acht Tagen führt Erdogan einen Angriffskrieg gegen die Kurden, der ab vorgestern Freitag für 120 Stunden unterbrochen werden soll. Semra (58), Laborantin, Mutter, glücklich geschieden, sagt: «Für mich ist das nicht einfach irgendein Krieg. Mich und die anderen hier betrifft das persönlich.» 300 000 Menschen sind in Syrien bereits auf der Flucht.

Nach und nach treffen mehr ­Leute ein. Sie gehen in die Küche des Zentrums, holen eine Tasse Schwarztee, lösen Zuckerstücke darin auf, starren in den Fernseher, diskutieren. Sie rauchen zu viel und schlafen zu wenig. Semra sagt: «Ich hoffe, dass ihr Europäer so etwas nie erleben müsst.»
Ali ist mit seinem Handy beschäftigt. Ein Mädchen hüpft durch den Raum. Auf ihrem gelben Pullover steht: Fun. Everywhere.

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«Der IS ist nun auch das Problem von Europa»

Kurden, das sind für Erdogan Terroristen. Für die Kurden wiederum ist Erdogan ein Terrorist. Klar ist: Viele IS-Terroristen, die in den Gebieten, die jetzt angegriffen werden in Gefangenenlager waren, sind nun frei. Freigebombt von den islamistischen Milizen, mit denen Türken bei der Invasion zusammenarbeiten. Es sind Kämpfer aus Frankreich, Deutschland aus Grossbritannien, einige wohl auch aus der Schweiz. Semra sagt: «Diese IS-Kämpfer sind nun nicht mehr nur ein Sicherheitsproblem für die Kurden. Das ist nun auch euer Problem.»

Die Kurden waren es, die sich dem IS damals in den Weg stellten. Sie befreiten 2014 die Stadt Kobane und nach und nach die eingenommenen Dörfer. Damit nahmen sie dem IS die Aura der Unbesiegbarkeit. Es war der Anfang vom Ende des Kalifats. Noch während sie kämpften, machten sie sich daran, die Städte und Dörfer wieder aufzubauen. Es entsteht ein autonomes kurdisches Gebiet. Der Name: ­Rojava.

«Was in Rojava entsteht, gefährdet Erdogans Macht.»

Rojava, ein Ort, an dem Menschen in Frieden zusammenleben. Egal welche Ethnie oder Religion. Von einem gesellschaftlichen Modell für die ganze Region ist die Rede. Es gibt aber durchaus auch Kritik. Etwa die, dass die Kurden ihre Vorstellungen vom idealen ­Zusammenleben teilweise ziemlich harsch durchsetzten. Ali sagt: «Was in Rojava entsteht, gefährdet Erdogans Macht.» Es sei schwierig, Menschen zu unterdrücken, die in einer Demokratie leben, die eigenständig denken dürfen. Erdogan wolle so ­etwas nicht vor seiner Haustüre.

Gülderen, eine kleine Frau mit Hang zu grossen Worten, sitzt ebenfalls auf einem der roten Stühle im Kulturzentrum, spricht über das kapitalistische ­System, über die Frauenrevolution in Rojava. «Dort entsteht etwas von Frauen Gemachtes, etwas Lebendiges mit Liebe Gestricktes.» In Rojava gebe es Gleichberechtigung, sagt sie. Ali führt aus: «In den umliegenden islamischen Ländern haben Frauen wenig zu sagen, dürfen nur zu Hause sein.» Gülderen sagt: «Erdogan hat Angst vor Frauen.» Auch deshalb greife er Rojava an.

«Meine Tochter ist in Syrien»

Ali schaut auf sein Handy, blickt in die Runde: «Serekaniye ist unter ­Beschuss.» Die Gleichzeitigkeit der Welt ist für die Menschen in diesem Raum zurzeit schwer auszuhalten – dort fallen Bomben auf Städte, hier Zuckerstücke in Schwarztee.

Gülten zieht ihre Jacke nicht aus, sitzt an einem der Tische im Zentrum, schaut in den Fernseher. Bilder aus Syrien. Sie weiss: Ihre Tochter ist dort. Ihre Tochter, die in Basel geboren und aufgewachsen ist. Mit 18 ging sie nach Syrien, um gegen den IS zu kämpfen. Das war vor fünf Jahren. «Als Eltern haben wir den Entscheid nicht akzeptiert. Aber respektiert.» Nun sei in Syrien wieder Krieg, und sie könne wieder nicht mehr schlafen, sagt Gülten. Seit einem Jahr habe sie keinen Kontakt mehr zu ihrer Tochter. Für ihre Gefühle gebe es keine Worte. Gülten wehrt sich gegen die Tränen, streicht sie aus den Augen, bevor sie fallen. Semra streichelt ihr über die Wange.

Was in Syrien geschieht, gehe auch die Schweizer etwas an

Wer kurdische Wurzeln hat, setzt sich schon als Kind mit Politik auseinander. Vielleicht auch deshalb engagieren sich viele kurdische Secondos politisch. Edibe Gölgeli beispielsweise. Am Telefon sagt die SP-Politikerin: «Meine kurdischen Wurzeln holen mich immer wieder ein.» Im Grossen Rat von Basel-Stadt laufen derzeit viele wichtige politische Geschäfte. Der Krieg in Syrien sei eine zusätzliche Belastung. Sie versuche aber, die demokratischen Mittel zu nutzen, die ihr zur Verfügung stehen, um den Krieg zu stoppen. Denn was in Syrien geschehe, gehe auch die Schweizer etwas an. Schliesslich lebe in Basel eine grosse kurdische Diaspora. Menschen, die vor Unterdrückung und Krieg geflohen seien und nun einmal mehr bedroht würden.

Im kurdischen Kulturzentrum trägt ein älterer Mann leere Teetassen in die Küche. Draussen wird diskutiert, ziemlich laut. Die Frau mit dem langen Zopf sagt: «Entschuldige, alle sind angespannt ­wegen der Situation. Darum die ­Aggressivität.»

«Es geht immer nur im Geld»

Semra, die glücklich geschiedene Laborantin, ist wütend auf die Europäer, die sagen, dass sie den Krieg ganz schlimm finden, aber nicht handeln. Stattdessen den Türken grosszügig Waffen lieferten, Millionen verdienten. «Wir Kurden leben hier in Europa, bezahlen Steuern, und ihr liefert Erdogan Waffen, mit denen er dann unsere Leute tötet?!» Es gehe immer nur ums Geld, nie um Menschen, da sind sich Semra, Gülten und Gülderen einig.

Der Konflikt zwischen Kurden und Türken flammt manchmal auch hier in der Schweiz auf. Vor elf Jahren gab es eine Reihe von Brand­anschlägen auf türkische Geschäfte. Der Nachrichtendienst machte die kurdische Arbeiterpartei (PKK) dafür verantwortlich. Auch jetzt sorgt er sich vor Anschlägen auf kurdische oder türkische Einrichtungen.
Der Bundesrat hat die militärische Operation der Türken als völkerrechtswidrig verurteilt. Türkische Dachorganisationen in der Schweiz sehen das anders. Am Donnerstag veröffentlichten 13 von ihnen eine gemeinsame Medienmitteilung. Sie schreiben von einem legitimen Krieg und empören sich, dass Kurden letzte Woche an Kundgebungen die türkische Flagge verbrannt haben. Derweilen in Syrien: Verbrannte Kinder werden in Spitäler eingeliefert.

Ein Mann schreit Rojava, Erdogan, Faschist, Syrien

In Basel bilden die Kurden Fahrgemeinschaften. Sie wollen aufbrechen an die Kundgebung nach Bern. Im Auto redet Semra über den Mann, den sie nicht mag – Erdogan. An einer Autobahnraststätte vor Bern holt sie sich einen Kaffee. Er schmecke wässrig, sagt sie.

In Bern treffen sich die Kurden auf der Schützenmatte. Es hat viele Kinder, teils in kurdische Fahnen gehüllt. Ganz vorne schreit sich ein alter Mann am Mikrofon heiser. Er spricht kurdisch. Nur einzelne Worte sind verständlich: Rojava, Erdogan, Faschist, Syrien.

«Bern, wacht auf!»

Der Demonstranten setzen sich in Bewegung. Die Polizei begleitet sie. Doch die Kurden sind Demonstrationsprofis. Sie haben eigene Leute in Leuchtwesten, die den Verkehr regeln. Alles bleibt friedlich. Sie ziehen am Wochenmarkt vorbei. Eine Frau schreit ins Mikrofon: «Bern, wacht auf! In Rojava, im Norden Syriens, werden Zivilisten erschossen.» Die Leute, die in Restaurants beim Apéritif an der Sonne sitzen, schauen die vorbeiziehenden Kurden irritiert an. Bald darauf stehen die Demonstranten vor dem Bundeshaus. Es ist das Ende der Kundgebung.

Kurz drauf sitzen Semra, Gülten, Gülderen schon wieder im Auto, fahren zurück nach Basel. Am Abend ist auch dort noch eine Kundgebung angesagt. Die Laborantin Semra ist müde, sagt: «Ich würde ja auch lieber etwas anderes machen, als jeden Tag auf die Strasse zu gehen.» 

Die Türkei und die Kurden

Die Herkunft des kurdischen Volks ist unklar. Vor langer Zeit wurden so Nomadenstämme bezeichnet, die weder Araber noch Türken waren. Geschätzte 30 Millionen Menschen gehören heute zur ethnischen Volksgruppe der Kurden. Ein eigenes Land haben sie nicht. Sie leben hauptsächlich in der Türkei, im Irak, Iran und in Syrien, sind dort seit jeher mehr oder minder starken Repressalien ausgesetzt. Mit der Gründung der heutigen Türkei (1913) wurde den Kurden eine eigene Identität abgesprochen.

Ab den 1970er-Jahren kämpfte die kurdische Arbeiterpartei (PKK) unter Abdullah Öcalan für einen unabhängigen Staat. Auch mit Terroranschlägen. Die türkische Regierung schlug zurück, mehr als 40'000 Menschen liessen in diesem Konflikt ihr Leben. Mit der Annäherung der Türkei an die EU verbesserte sich die Situation der Kurden. Seit 2015 hat die Diskriminierung allerdings massiv zugenommen. Grund dafür ist der türkische Nationalismus, der von Präsident Erdogan mit neuer Intensität kultiviert wird. Dazu gehört auch der Angriffskrieg, den die Türkei aktuell gegen die Kurden in Syrien führt.

Die Herkunft des kurdischen Volks ist unklar. Vor langer Zeit wurden so Nomadenstämme bezeichnet, die weder Araber noch Türken waren. Geschätzte 30 Millionen Menschen gehören heute zur ethnischen Volksgruppe der Kurden. Ein eigenes Land haben sie nicht. Sie leben hauptsächlich in der Türkei, im Irak, Iran und in Syrien, sind dort seit jeher mehr oder minder starken Repressalien ausgesetzt. Mit der Gründung der heutigen Türkei (1913) wurde den Kurden eine eigene Identität abgesprochen.

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Krieg in Syrien

Seit 2011 tobt der syrische Bürgerkrieg zwischen dem Assad-Regime und verschiedenen Rebellen-Gruppen. Dort engagieren sich auch ausländische Mächte, allen voran Russland und die USA oder die Türkei.

Fast jede dritte weltweit verkaufte Waffe hatte in den vergangenen fünf Jahren einen Abnehmer im Nahen Osten. (Symbolbild)
Fast jede dritte weltweit verkaufte Waffe hatte in den vergangenen fünf Jahren einen Abnehmer im Nahen Osten. (Symbolbild)
KEYSTONE/AP/STR

Seit 2011 tobt der syrische Bürgerkrieg zwischen dem Assad-Regime und verschiedenen Rebellen-Gruppen. Dort engagieren sich auch ausländische Mächte, allen voran Russland und die USA oder die Türkei.

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