Wie es mal angefangen hat, weiss kaum jemand mehr. Das Ende wird die Schweiz nicht so schnell vergessen. Am Mittwoch, 26. Mai 2021, hat der Bundesrat etwas getan, was die Schweiz nie tut. Sie hat Verhandlungen abgebrochen, noch dazu mit unserem wichtigsten wirtschaftlichen und politischen Partner.
In ungewohnter Deutlichkeit hat die Landesregierung der EU-Kommission mitgeteilt, dass sie nicht mehr über das Rahmenabkommen reden will. Obwohl die Schweiz – etwa mit ihren Guten Diensten – doch nichts lieber tut und besser kann als reden.
Es machte vor allem Ärger
Auf den zweiten Blick erstaunt der Abbruch nicht. Das Dossier Rahmenabkommen war von Beginn weg verfahren. Am Anfang stand die Idee über einen Mechanismus, mit dem sich die vielen bilateralen Verträge leichter aufdatieren und Streitigkeiten besser lösen liessen.
In Tat und Wahrheit haben uns die Verhandlungen vor allem Ärger eingebracht: jahrelange Diskussionen über «fremde Richter», Diskriminierungen durch die EU als Druckmittel, innenpolitische Spaltung. Sie haben fünf Staatssekretäre und mit Didier Burkhalter (61) gar einen Bundesrat verschlissen.
Die Knacknuss war immer dieselbe
Und die Schweiz hat wirklich über alles diskutiert – über «automatische» und «dynamische» Rechtsübernahme, darüber, ob man doch den Beitritt wagen oder es zumindest nochmals mit dem EWR versuchen soll. Und immer wieder über die SVP, die davon profitierte.
Dabei stellte sich schnell heraus, dass Streitigkeiten fast ausschliesslich in einem Thema aufkamen: bei der Personenfreizügigkeit. Und just hier liegen die Standpunkte so meilenweit auseinander, dass sie nun zum Abbruch geführt haben.
Reden, reden, reden
Ein Abbruch, der zeigt, wie sehr sich die Welt und mit ihr die Schweiz verändert haben. Früher – es ist noch nicht so lange her – hat die Schweiz alles ausgesessen. Geredet, geredet, geredet. Und erst gehandelt, wenn der Druck von aussen übermächtig wurde. Stichwort jüdische Vermögenswerte, Stichwort Bankgeheimnis.
Wie anders jetzt. Es wäre ohne weiteres möglich gewesen, noch ein paar Jahre zu verhandeln. Einfach weiterzureden, im Wissen, dass kein Abschluss möglich ist.
Stattdessen zieht der Bundesrat die Reissleine und wagt sich auf neues Terrain vor. So soll Karin Keller-Sutter (57) ausloten, wo die Schweiz ihr Recht selbst so anpassen kann, dass es EU-konform ist.
Der alte Zankapfel bleibt
Im Zentrum stehen jene Abkommen, die der Schweiz Zugang zum EU-Binnenmarkt geben. Und damit der Zankapfel Personenfreizügigkeit. Dass Keller-Sutter schon jetzt Kantone und Sozialpartner einbindet, hat also einen Grund: Lassen sich beim Lohnschutz und der Unionsbürgerrichtlinie Wege finden, die EU von einer Spirale der Strafaktionen abzubringen?
Möglichkeiten gäbe es: Beim Lohnschutz könnte die Schweiz jenen Kompromiss, den sie der EU vorgeschlagen hat, umsetzen und etwa die Voranmeldefrist für ausländische Firmen verkürzen. Und bei der Zuwanderung aus dem EU-Raum damit anfangen, die Diskriminierung von Osteuropäern zu beenden, die heute doppelt so lange auf ihren C-Ausweis warten müssen wie Westeuropäer, Kanadier und US-Bürgerinnen.
Cassis soll weiterreden
Gleichzeitig wird Aussenminister Ignazio Cassis (60) einen politischen Dialog mit der EU starten – einen fixen Rahmen für regelmässige Treffen mit der EU-Spitze in Brüssel. Denn so unglaublich es klingt: Den gibt es bis heute nicht.
Cassis hat daher die Botschafter in den EU-Mitgliedsstaaten angewiesen, diese Idee den jeweiligen Regierungen vorzuschlagen. Diese sollen dann über den EU-Ministerrat Druck auf die Kommission in Brüssel machen.
Wohin der neue Weg führt, ist allerdings offen – und wird sich wohl in Brüssel entscheiden.