Das grosse Interview mit Kanzler Sebastian Kurz
«Europa muss wieder zum Kontinent der Zuversicht werden»

Im Gespräch mit SonntagsBlick nimmt der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz (32) Stellung zum Verhältnis Schweiz-Österreich, zum Zankapfel Rahmenvertrag, und was es braucht, damit die EU auch in Zukunft ein Erfolgsmodell bleibt.
Publiziert: 26.01.2019 um 20:11 Uhr
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Aktualisiert: 18.09.2020 um 12:58 Uhr
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Vizekanzler Heinz-Christian Strache (FPÖ, l.) und Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) im Januar an der Regierungsklausur im niederösterreichischen Mauerbach.
Foto: imago/Eibner Europa
Interview: Christian Dorer; Fotos: André Springer

Seit einem Jahr und einem Monat ist Sebastian Kurz (32) Bundeskanzler von Österreich. Grosse Beachtung aber geniesst er in ganz Europa, seit er als blutjunger Aussenminister eine harte Linie in der Zuwanderung durchgesetzt hat. Zwei Tage verbringt er am WEF in Davos, trifft andere Staatschefs, Wirtschaftsführer wie Jack Ma von Alibaba und Sheryl Sandberg von Facebook. Und, in einem Stübli des Turmhotels Victoria, den SonntagsBlick zum Interview.

Wie hat sich Ihr Leben verändert, seit Sie Bundeskanzler sind?
Sebastian Kurz:
Mein Privatleben hat sich überhaupt nicht verändert. Ich habe dieselben Freunde wie eh und je, ich wohne in derselben Gegend wie eh und je. Aber die Verantwortung ist grösser geworden.

Fliegen Sie noch immer Economy?
Meistens schon. Der Austausch mit der Bevölkerung hilft mir sehr, weil ich Hinweise bekomme, was die Leute besorgt, was sie unterstützen und wo ich noch Überzeugungsarbeit leisten muss, gerade bei viel diskutierten Massnahmen.

Bisher wusste ausserhalb Ihres Landes kaum jemand, wie der österreichische Bundeskanzler heisst. Jetzt sind Sie der Shootingstar in ganz Europa. Wie haben Sie das geschafft?
Sie übertreiben ein bisschen … Was sicherlich stimmt: Aufgrund meines jungen Alters erhalte ich mehr Aufmerksamkeit als frühere österreichische Regierungschefs.

Führen Sie als junger Chef anders?
Das möchte ich nicht beurteilen. Ich versuche alles zu tun, um eine gute Zusammenarbeit im Regierungsteam zu gewährleisten. Wir hatten in Österreich jahrelang Stillstand und Blockade mit zwei Regierungsparteien, die mehr gegeneinander statt miteinander gearbeitet haben. Das war nicht zum Wohle unseres Landes. Österreich ist in den internationalen Rankings immer weiter zurückgefallen. Wir haben an Wettbewerbsfähigkeit verloren. Da wollen wir jetzt gegensteuern.

Was haben Sie in Ihrem ersten Jahr als Bundeskanzler gelernt?
Ich bin für ein grosses Themenspektrum zuständig und habe erleben dürfen, dass man viel Gestaltungsmöglichkeit hat: Wir haben im ersten Jahr versucht, die Steuerlast zu senken, wir haben die Arbeitszeit flexibilisiert und kämpfen gegen Bürokratie und Regulierung. Es ist schön, zu sehen, dass diese Massnahmen Wirkung zeigen: Die Arbeitslosigkeit sinkt, das Wirtschaftswachstum liegt bei drei Prozent, also deutlich höher als in den meisten europäischen Staaten.

Haben Sie Ihren Koalitionspartner, die Freiheitlichen, im Griff?
Wir haben eine gute Zusammenarbeit und setzen Schritt für Schritt das Regierungsprogramm um. Natürlich sind wir zwei unterschiedliche Parteien mit unterschiedlichen Prägungen und unterschiedlichen Werthaltungen.

Es herrscht gerade Aufregung, weil Ihr Innenminister Herbert Kickl sagte, dasRecht habe der Politik zu folgen und nicht umgekehrt, und weil er die Menschenrechtskonvention infrage stellt. Was machen Sie da als sein Chef?
Natürlich gibt es immer wieder die Situation, dass ich zum Telefon greife und das eine oder andere klärende Gespräch führen muss. Aber das gehört auch zur Arbeit eines Regierungschefs.

Sind solche Ausrutscher der Preis für eine Koalition mit der FPÖ?
Koalitionen sind immer eine Herausforderung. Ganz gleich, wer der Koalitionspartner ist. Viele der Reformen, die wir durchführen – wie die Senkung der Steuerlast und der Kampf gegen illegale Migration – wären mit den Sozialdemokraten als Koalitionspartner niemals möglich gewesen. Dafür gibt es mit den Freiheitlichen da und dort Diskussionen, die es mit einem anderen Partner nicht geben würde.

Ihre Regierung hat populäre Dinge beschlossen: Das Rauchverbot in Lokalen wurde aufgehoben, Tempo 140 auf Autobahnen zugelassen. Ist das nicht vor allem Effekthascherei?
Über diese Massnahmen wurde in der Öffentlichkeit bereits viel diskutiert. Mein Fokus liegt besonders auf der Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit des Landes, dem Kampf gegen illegale Migration und auf der Senkung der Steuerlast für arbeitende Menschen. Damit den Familien mehr zum Leben bleibt.

Sie haben am WEF ein neues europäischen Selbstbewusstsein gefordert. Was muss passieren?
Ich wünsche mir, dass wir stärker auf unsere eigenen Interessen achten und den Anspruch haben, international an der Spitze zu bleiben. In Europa leben 500 Millionen Menschen, sie erbringen ein Viertel der Weltwirtschaftsleistung und sind die grössten Geber bei Entwicklungsarbeit und humanitärer Hilfe. Gleichzeitig herrscht eine negative, depressive Grundstimmung. Europa muss wieder zum Kontinent der Zuversicht werden.

Sind wir träge und satt geworden?
Ja, so scheint es leider – und dagegen müssen wir ankämpfen. Der globale Wettbewerb ist extrem, manche Länder entwickeln sich so gut, dass sie uns nicht nur eingeholt, sondern überholt haben. Singapur war vor 40 Jahren ein Entwicklungsland und ist jetzt deutlich besser unterwegs als viele europäische Länder. Wenn wir uns nicht anstrengen, an der Spitze der Welt zu stehen, werden wir zurückfallen.

Geraten die liberalen Demokratien unter Druck, wenn autoritäre Staaten wie China und Singapur wirtschaftlich derart erfolgreich sind?
Ich bin überzeugt, dass die liberale Demokratie nicht nur das richtige Konzept ist für die Menschen, es ist auch das richtige Rezept für nachhaltigen wirtschaftlichen Erfolg. Europa ist der lebenswerteste Kontinent der Welt! Aber wir dürfen nicht falsch abbiegen: Überregulierung, das ständige Erhöhen von Steuern, die Schuldenpolitik, wie sie in vielen europäischen Ländern gelebt wurde: Das ist der falsche Weg.

Die meisten Start-ups entstehen in den USA, auch Asien ist führend bei neuen Technologien. Wie kann Europa hier aufholen?
Indem wir nicht mit ständig neuer Bürokratie die Innovation abtöten! Denn nur wenn junge Menschen Unternehmer werden, bleiben wir wettbewerbsfähig.

Herr Bundeskanzler, Sie als Nachbar: Was raten Sie der Schweiz im Umgang mit der EU?
Die Schweiz steht ausgezeichnet da. Österreich und die Schweiz können viel voneinander lernen. Wir sind froh, einen so erfolgreichen Nachbarn zu haben. Im Umgang mit der EU hoffe ich, dass es weiterhin eine gute Zusammenarbeit geben wird, weil alles andere zum Schaden von Österreich, aber auch der Schweiz wäre.

Zankapfel ist der Rahmenvertrag. Hand aufs Herz: Sie würden ein solches Abkommen auch nicht unterzeichnen.
Wir haben innerhalb der EU immer wieder um Verständnis für die Schweiz geworben. Weil wir uns einerseits der Schweiz nahe fühlen und andererseits ein Eigeninteresse daran haben, dass eine zukunftsgerichtete Zusammenarbeit weiterhin sichergestellt werden kann. Ich hoffe sehr, dass es am Ende des Tages eine Lösung und eine Einigung auf das ausverhandelte institutionelle Rahmenabkommen geben wird.

Können Sie verstehen, dass die Schweiz mehr Selbstbestimmung möchte, zum Beispiel beim Lohnschutz?
Ich verstehe die vielen legitimen Interessen der Schweiz in dieser Frage. Es ist aber ebenso klar, dass die EU ihre Grundsätze, die für alle anderen auch gelten, nicht über Bord werfen kann. Auch für die EU-Staaten gilt gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort.

Und trotzdem geht es doch nicht an, dass die EU die Schweiz mit der Börsenzulassung oder dem Forschungsprogramm piesackt.
Es ist eine etwas verfahrene Situation, und wir haben alle ein Interesse daran, eine Lösung zu finden.

Falls es hart auf hart geht: Kann die Schweiz auf Sie zählen?
Wir Österreicher haben stets versucht, uns positiv einzubringen. Auch haben wir immer wieder versucht, in der EU ein Bewusstsein für die Schweiz zu schaffen. Wir werden uns weiter bemühen, hier einen positiven Beitrag zu leisten. Wir müssen unseren Schweizer Freunden aber auch klar sagen, wo die roten Linien der Europäischen Union sind.

Wie geht es eigentlich dem EU-Land Österreich?
Wir sind froh über unseren Beitritt zur EU, weil wir insbesondere wirtschaftlich sehr stark profitiert haben. Dies betrifft insbesondere die Exporte und unsere Möglichkeiten in Osteuropa.

Was passiert mit der EU, falls es jetzt doch zu einem harten Brexit kommt?
Das wäre schlecht für Grossbritannien und schlecht für die Europäische Union. Daher tun wir alles, um einen harten Brexit zu verhindern. Wenn es trotzdem so weit kommt, sind wir jedoch auch darauf vorbereitet.

Wie immer es herauskommt: Werden die Verhandlungen für die Schweiz danach einfacher?
Damit würde ich nicht unbedingt kalkulieren. Jetzt sind einmal die Schweizer selbst am Zug, sie werden sich in der Konsultationsphase ihre Meinung bilden.

Ihr grosses Thema ist seit Jahren die Migration nach Europa, und die ist stark zurückgegangen. Sehen Sie das als Ihr Verdienst?
Wir haben Gott sei Dank eine Trendwende in der EU einleiten können: weg vom alleinigen Fokus auf die Verteilung von Flüchtlingen in Europa, hin zu einem ordentlichen Aussengrenzschutz, hin zu Kooperation mit den nordafrikanischen Staaten, hin zum Kampf gegen die Schlepper. Ich bin froh, dass 95 Prozent weniger Menschen illegal in Europa ankommen als im Jahr 2015. Es ertrinken auch deutlich weniger, was zeigt, dass wir mit unserer Haltung recht gehabt haben. In der EU ist mehrheitsfähig geworden, was wir bereits 2015 gefordert haben und wofür wir damals hart kritisiert wurden.

Fast überall in Europa gibt es nationalistische Tendenzen. Trägt die EU eine Mitschuld, weil sie zu viel zentral regeln will?
Ich wünsche mir ein Europa der Subsidiarität. Eine EU, die stärker in den grossen Fragen zusammenarbeitet: vom Aussengrenzschutz bis zum Binnenmarkt. Und gleichzeitig eine EU, die sich zurücknimmt in kleinen Fragen, die Regionen oder Mitgliedstaaten selbst besser regeln können. Wenn es uns gelingt, dass die EU nicht ständig mehr Regulierung und Bürokratie schafft, dann wird die Bevölkerung sie wieder stärker unterstützen.

Sie sind Nachbar und teilweise Fürsprecher der autoritären Staaten in Osteuropa. Wie gefährlich ist die Entwicklung in Ungarn?
In allen Staaten der Europäischen Union müssen Rechtsstaatlichkeit und Demokratie als unsere Grundwerte gewahrt werden. Das ist nicht verhandelbar. In Sachfragen wie etwa der Migration muss aber sehr wohl eine Diskussion zulässig sein. Es ist wichtig, dass es nicht ein Europa der zwei Klassen gibt: Mit Mitgliedstaaten der ersten und der zweiten Klasse, den Guten und den Bösen. Wir brauchen keine neuen Trennlinien in Europa.

Persönlich

Sebastian Kurz wurde am 27. August 1986 geboren, als einziges Kind eines Ingenieurs und einer Lehrerin. Er steigt mit 16 bei der Jungen ÖVP in die Politik ein – geprägt durch die plötzliche Arbeitslosigkeit seines Vaters. Mit 24 wird er Staatssekretär für Integration, mit 27 Aussenminister. Er nimmt in der Flüchtlingsfrage europaweit eine führende Rolle ein, weil er sich mit seinem Plan für einen starken Aussengrenzschutz durchsetzt. Im Dezember 2017 wird er mit 31 Jahren österreichischer Bundeskanzler und damit der jüngste Regierungschef der Welt. Gemäss Umfragen ist er mit Abstand der beliebteste Politiker Österreichs. Er wohnt mit seiner langjährigen Partnerin im Wiener Arbeiterbezirk Meidling, wo er auch aufgewachsen ist.

Sebastian Kurz wurde am 27. August 1986 geboren, als einziges Kind eines Ingenieurs und einer Lehrerin. Er steigt mit 16 bei der Jungen ÖVP in die Politik ein – geprägt durch die plötzliche Arbeitslosigkeit seines Vaters. Mit 24 wird er Staatssekretär für Integration, mit 27 Aussenminister. Er nimmt in der Flüchtlingsfrage europaweit eine führende Rolle ein, weil er sich mit seinem Plan für einen starken Aussengrenzschutz durchsetzt. Im Dezember 2017 wird er mit 31 Jahren österreichischer Bundeskanzler und damit der jüngste Regierungschef der Welt. Gemäss Umfragen ist er mit Abstand der beliebteste Politiker Österreichs. Er wohnt mit seiner langjährigen Partnerin im Wiener Arbeiterbezirk Meidling, wo er auch aufgewachsen ist.

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