Bleibt Merkel? Gelingt Schulz die grosse Überraschung? Wie schneidet die rechte AfD ab? Deutschland wählt am kommenden Wochenende, und der Ausgang ist auch für die Schweiz von grosser Bedeutung. BLICK hat vor der Bundestagswahl die Schweizer Botschafterin Christine Schraner Burgener (53) in der Vertretung in Berlin besucht. Sie ist die erste Frau auf diesem Posten – und überwältigt davon, wie sehr die Deutschen von der Schweiz schwärmen.
BLICK: Frau Schraner, Sie sind nun seit zwei Jahren Botschafterin in Berlin. Welche deutschen Gepflogenheiten haben Sie schon angenommen?
Christine Schraner Burgener: In Deutschland muss man direkter sein, als ich es bisher gewohnt war. Ich drücke mich hier zwar immer noch höflich, aber klarer aus, wenn ich etwas fordere. Nur so wirds verstanden. Diese eher forsche Art hat mit Arroganz, wie es für Schweizer den Anschein hat, nichts zu tun.
Sind Sie mit Angela Merkel per Du?
Die Kanzlerin ist selbst mit ihren engen Mitarbeitern per Sie. Auch wir begrüssen uns selbstverständlich mit Nachnamen.
Treffen Sie sie oft? Rufen Sie sie auch an?
Ich sehe sie hin und wieder an offiziellen Anlässen. Telefonieren tun wir nicht, das wäre dann schon etwas zu hoch. Ich pflege aber einen guten Kontakt mit ihrem Stab. Bei dringenden Angelegenheiten gehe ich schnell über die Strasse ins Kanzleramt.
Sie haben einen kleinen Schweizer Akzent, wenn Sie hochdeutsch sprechen. Bringt das Vorteile?
Er löst manchmal tatsächlich einen Jöö-Effekt aus. Bei Verhandlungen aber ist das kein Bonus mehr, da ist vor allem Kompetenz massgebend.
Was haben Sie in den zwei Jahren in Berlin erreicht?
Ich betrachte mich als Türöffnerin und Brückenbauerin. Mein grosses Ziel besteht darin, möglichst viele Leute miteinander zu vernetzen. Natürlich geht es dabei um die Vertretung der Interessen der Schweiz; wir pflegen einen Austausch in fast allen Bereichen wie Verkehr, Energie, Umwelt, Handel, Finanzen, Kultur, Forschung, Bildung, Gesundheit und so weiter.
Noch aber harren einige Probleme einer Lösung. Da ist der Streit um den Anflug auf den Flughafen Zürich.
Das Problem ist nicht unüberbrückbar. Ich reise oft nach Baden-Württemberg und versuche, bei den Betroffenen Vertrauen aufzubauen. Ich bin überzeugt, dass es unter befreundeten Nachbarn eine Lösung geben muss.
Ein anderes Problem ist der Ausbau der Bahninfrastruktur. Die Deutschen halten den Staatsvertrag nicht ein.
Die Hochrheinbahn zwischen Konstanz und Basel, die Verbindung von Zürich nach München sowie die Gäubahn sind auf gutem Weg. Ein riesiges Problem besteht zurzeit bei der Rheintalbahn, wo bei Rastatt wegen Tunnelarbeiten der Boden abgesackt ist.
Die Deutschen haben gepfuscht. Wie gross ist der Schaden für die Schweiz?
Technische Probleme können überall auftreten. Aber man muss leider sagen: Es ist mehr als ärgerlich. Weil Güterzüge umgeleitet werden müssen oder gar ganz ausfallen, entsteht für die Schweizer Wirtschaft ein Milliardenschaden. Es dauert noch bis Anfang Oktober, bis die Strecke wieder befahren werden kann.
Zu einem richtigen Streit zwischen den beiden Ländern hat die Spionageaffäre geführt, die in Zusammenhang mit dem inzwischen gelösten Finanzstreit steht. Haben Sie den in Deutschland verhafteten, angeblichen Schweizer Spion Daniel M. schon mal im Gefängnis besucht?
Jeder Schweizer, der im Ausland inhaftiert ist, kann sich einen Besuch seitens der Botschaft wünschen.
Und – hat er Ihren Besuch angefordert?
Dazu sage ich nichts. Ich würde auch nicht persönlich gehen, dies wäre die Aufgabe unserer konsularischen Abteilung.
Inzwischen ermitteln Schweizer Behörden gegen deutsche Steuerfahnder, umgekehrt deutsche Behörden gegen Angestellte des Schweizer Nachrichtendienstes. Wie helfen Sie, diesen Streit zu schlichten?
Das ist eine reine Sache der Justiz.
Wie belastend sind diese Probleme wirklich für die Beziehung zwischen den beiden Ländern?
Deutschland und die Schweiz verbindet eine grosse Freundschaft, der solche Diskussionen nichts anhaben können.
Worin besteht diese tiefe Freundschaft?
In engen Beziehungen in fast allen Politikbereichen. Der grösste Erfolg ist der gegenseitige Handel: Unser Handelsvolumen mit Deutschland beträgt jährlich knapp 94 Milliarden Franken. Es ist unser wichtigster Handelspartner. Umgekehrt ist die Schweiz der grösste Investor ausserhalb der EU, noch vor den USA.
Wir sind also auch jemand …
Absolut. Und das versuche ich den Deutschen auch immer wieder deutlich zu machen, gerade wenn es um EU-Fragen geht. Dazu gehört auch, unsere direkte Demokratie zu erklären, in welcher der Volkswille über allem steht.
Viele Deutsche aber kennen unser System und möchten es adaptieren – zum Beispiel die AfD. Haben Sie Kontakt zu dieser Rechtspartei?
Hin und wieder treffe ich jemanden bei Veranstaltungen. Wenn sie nun – wie Umfragen ergeben – in den Bundestag einziehen, werde ich sie gleich behandeln wie die andern.
Empfinden Sie die AfD als rassistisch?
Gemäss einer Studie zieht diese Partei Leute an, die Angst haben, ihren Status zu verlieren. Es ist grundsätzlich gesund für eine Demokratie, wenn es verschiedene Stimmen gibt – rassistische Tendenzen verurteile ich aber aufs Schärfste.
Am 24. September wählen die Deutschen ihren Bundestag. Wer wird gewinnen?
Laut Prognosen schwingt im Moment klar die CDU/CSU obenauf. Die Frage ist aber, wie die Koalition aussehen wird, wer mit wem einen Deal abschliesst.
Was wäre denn für die Schweiz am besten?
Bei einem Nachbarland, mit dem wir uns so eng austauschen, würden wir uns mit jeder Regierung gut verstehen.
Und wer wäre als Kanzler bzw. Kanzlerin für uns vorteilhafter: Merkel oder Schulz?
Beide vertreten ähnliche Positionen. Wir arbeiten mit allen zusammen.
Ähnlich? Der eine ist ein Mann, die andere eine Frau …
Sind wir denn so verschieden? Alle, die in einer Machtposition stehen, wollen doch einfach etwas bewegen und vorwärtskommen. Egal, ob Mann oder Frau. Merkel und Schulz sind beide überzeugte Europäer.
Wie wird die Schweiz in Deutschland wahrgenommen?
Ich bin überwältigt davon, wie die Deutschen in den höchsten Tönen über unser Land schwärmen. Sie lieben unsere Landschaft, sie finden alles gut organisiert, sie mögen uns. Ich höre selten Negatives.
Auch nicht, dass wir Schmarotzer seien?
Nie gehört. Wir sind ja innerhalb Europas oft solidarischer mit der EU als einzelne Mitgliedstaaten. Gerade etwa in der Migrationspolitik und der Forschung sind wir ein sehr verlässlicher und wichtiger Partner.
Welche Schweizer Namen kennt man in Berlin?
Emil, Bruno Ganz …
Und Politiker?
Da haben sie etwas Mühe, nicht zuletzt, weil bei uns der Bundespräsident jährlich wechselt. Mich haben deutsche Politiker schon mit einem Augenzwinkern gebeten, das zu ändern, weil es zu kompliziert sei. Aber gerade dieses Thema zeigt, wie wichtig es ist, dass ich den Deutschen unsere Politik und Politiker näherbringe.
Welches Bild wollen Sie in Berlin von der Schweiz vermitteln?
Ein authentisches. Die Schweiz ist modern, sie gilt weltweit als Nummer eins bei der Innovation. Sie ist auch auf Traditionen bedacht, wie vor kurzem das Unspunnenfest wieder gezeigt hat. Die Schweiz ist aber auch tolerant: Wir leben ohne nennenswerte Probleme mit vier Landessprachen und einem Ausländeranteil von fast 25 Prozent.
Deutschland hat einen Ausländeranteil von nur neun Prozent und erlebte nach der grossen Flüchtlingswelle 2015 ein Chaos. Warum klappt bei uns die Integration besser?
Weil wir selber mit vier Sprachen schon divers sind. Wir sind zusammengewachsen und wissen, dass man sich um den Zusammenhalt bemühen muss. Zudem können wir auf eine lange humanitäre Tradition zurückblicken. Wir haben Erfahrungen mit mehreren Migrationswellen – etwa mit den Italienern, den Tamilen und den Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien.
Welche Fehler haben die Deutschen bei der grossen Immigration von 2015 gemacht?
Die Migranten befanden sich ja schon in Europa. Man konnte sie nicht einfach in einen kriegerischen Konflikt zurückschicken. Man muss in ganz Europa noch bessere Lösungen finden. Dabei geht es um Fragen der Sicherung von Schengen-Aussengrenzen und ein krisensicheres Dublin-System. Es ist müssig, im Nachhinein zu sagen, was richtig oder falsch gemacht worden ist.
Könnten die Deutschen in der Flüchtlingspolitik etwas von der Schweiz lernen?
Wir stehen bereits in sehr intensivem Austausch. In Deutschland stossen vor allem unsere Auffangzentren auf grosses Interesse. Sie gelten als Vorbild für die europäischen Hotspots. Die Deutschen haben auch schnellere Asylverfahren eingeführt, als wir sie haben.
Sie sind die erste Frau, die den Botschafterposten in Berlin innehat. Ihre Stabsangestellten sind fast alle weiblich. Sind Frauen bessere Diplomaten?
Es liegt in ihrer Natur, etwas zusammenzuhalten. Ihnen liegt sehr viel daran, dass es der Familie gut geht. Das sieht man immer wieder bei Konflikten, wo Frauen im Hintergrund wirken und eine friedliche Lösung anstreben.
Also sind Sie besser als Ihre männlichen Vorgänger?
Diplomatie ist keine Frage des Geschlechts. Es braucht einfach Leute mit starker Sozialkompetenz, die sich in die Lage von anderen einfühlen können. Nur so gelingt es, die eigenen Interessen durchzusetzen.