Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder hat zwei Büros: ein offizielles in Berlin, das ihm der Staat lebenslang zur Verfügung stellt, inklusive Mitarbeiterstab. Und ein privates in Hannover – ein grosszügiger, hoher Raum, ausgestattet mit Kunstwerken und Schwarz-Weiss-Fotografien von allen ehemaligen deutschen Bundeskanzlern. Das bislang letzte Bild zeigt ihn selber.
Sie waren immer ein gefürchteter Wahlkämpfer – juckt es Sie manchmal noch?
Gerhard Schröder: Nein. Man muss wissen, wann es vorbei ist. Natürlich bleibe ich ein politischer Mensch und nehme auch an den Diskussionen teil. Aber ich stehe nicht mehr auf der Bühne.
Angela Merkel ist zwölf Jahre im Amt. Sie hat gewisse Fehler gemacht, sie wäre zu schlagen.
In der Tat, und ich glaube, dass die SPD mit Martin Schulz den richtigen Kandidaten hat. Er hat deutlich gemacht, dass er Kanzler werden will. Und dieses Amt muss man, um zu gewinnen, unbedingt wollen. Er kann es schaffen, auch wenn die Umfragen jetzt wieder ein bisschen schwächer sind.
Auch die Resultate sind schlecht: Im Saarland, in Schleswig-Holstein und in Nordrhein-Westfalen hat die SPD herbe Niederlagen eingefahren.
Ohne Zweifel sind das schmerzhafte Ergebnisse. Aber es sind Landtagswahlen. Die Leute können das schon unterscheiden. Die CDU hat während Frau Merkels Kanzlerschaft viele davon verloren und trotzdem die Bundestagswahl gewonnen. Und bei mir war das auch so.
Ist die Flüchtlingskrise die Achillesferse von Angela Merkel?
Ich denke schon, denn Frau Merkel hatte damals Herz, aber keinen Plan. Der Plan muss jetzt nachgeliefert werden. Wir haben eine Million Flüchtlinge aufgenommen, darunter sehr, sehr viele junge Männer. Diese Menschen werden wir ausbilden müssen. Und das wird Milliarden kosten. Einfach zu sagen, wir schaffen das reicht nicht.
Warum spielt die SPD nicht stärker auf Angela Merkel?
Weil es jetzt darum gehen muss, einen Plan zu entwickeln, wie diese Menschen integriert werden, wie wir Sicherheit garantieren und wie wir die Gesellschaft zusammenhalten.
War das Ausrufen der Willkommenskultur ein spontaner Akt oder eine Fehleinschätzung?
Da müssen Sie Frau Merkel fragen. Es war aber auf jeden Fall ein Fehler, so zu tun, als sei dieser Zustand ein neuer Normalzustand. Er war eine Ausnahme. Und muss eine einmalige Ausnahme bleiben.
Was hätten Sie gemacht?
Was wir wirklich brauchen, ist eine europäische Flüchtlingspolitik. Das bedeutet vor allem, dass man einerseits Grenzsicherung betreiben und anderseits den hauptbetroffenen Ländern wie Italien und Griechenland helfen muss.
Österreich hat ein strenges Integrationsgesetz verabschiedet mit klaren Regeln für Flüchtlinge.
Auch Deutschland gibt jährlich 200 bis 300 Millionen Euro für Sprachkurse aus. Die Menschen, die hier leben und eine Perspektive haben wollen, müssen die Sprache lernen. Das ist eine Selbstverständlichkeit. Da sind früher Fehler gemacht worden, weil man darauf nicht geachtet hat. Man muss einen gewissen Druck auf diejenigen ausüben, die sich nicht integrieren wollen. Es dürfen keine Parallelgesellschaften entstehen.
Frankreich hat gewählt. Was ist Ihr Bild von Präsident Macron?
Macron hat einen erstaunlichen Werdegang hinter sich und ist sehr ernst zu nehmen. Jetzt wird man sehen müssen, was er bewegen wird, ob er die notwendigen Reformen umsetzen kann. Der entscheidende Punkt für ihn wird, ob er eine parlamentarische Mehrheit erreichen kann.
Vermutlich werden alle gegen ihn sein.
Deshalb ist es notwendig, dass die deutsche Regierung – egal, welche – auf ihn zugeht. Wir brauchen einen Neuanfang in Europa. Und der kann nur gemeinsam mit Frankreich und Deutschland gemacht werden. Es stimmt positiv, was Macron über Europa sagt. Schliesslich ist es nicht einfach, in der jetzigen Situation mit einem proeuropäischen Programm anzutreten. Das hat er getan und beweist, dass er Mut hat.
Kann einer mit 39 Jahren ein guter Staatschef sein?
Ja, sicher, warum nicht? Dass er was von Politik versteht, hat er bewiesen. Und dass er sich durchsetzen kann, ebenfalls.
Ist der EU-Austritt Frankreichs vom Tisch?
Ja. Ich glaube ohnehin nicht, dass andere Länder Grossbritannien folgen. Die Briten haben einen verhängnisvollen Fehler gemacht und werden das bald erkennen. Erstens werden sie politisch an Einfluss verlieren. Die Vorstellung, man könne zurück zum Empire und auf der Weltbühne eine eigene Rolle spielen, ist realitätsfern. Zweitens: Grossbritannien wird wirtschaftlich leiden. Sie sehen jetzt schon: Die Londoner City verlegt Teile ihrer Arbeitsplätze nach Paris, Frankfurt oder Amsterdam. Und welcher Automobilzulieferer aus Japan oder Korea wird seine Europazentrale noch in Grossbritannien ansiedeln? Kein einziger!
Premierministerin May sagt selbstbewusst: Wir werden hart verhandeln und hinterher besser dastehen.
Sie hat überhaupt kein Druckmittel. Obelix würde sagen: «Die spinnen, die Briten.»
Die Schweiz zeigt, dass ein Land auch ausserhalb der EU erfolgreich sein kann.
Was ihre Wirtschaftsstruktur angeht, ist die Schweiz durch einen starken, hoch innovativen und internationalen Mittelstand gekennzeichnet. Das ist das Erfolgsmodell der Schweiz. Ausserdem hat die Schweiz die europäischen Richtlinien bisher übernommen – und das wollen die Briten gerade nicht.
Stärkt der Brexit die Position der Schweiz?
Nein, warum auch? Der schweizerische Volkswille ist zu respektieren. Aber schade ist es, denn die Schweiz könnte heute einen Antrag auf Aufnahme in der EU stellen und würde morgen aufgenommen.
Das wäre nicht mehrheitsfähig – und die direkte Demokratie würde in dieser Form nicht mehr funktionieren.
Das ist nun mal etwas Besonderes in Europa. Und ich verstehe auch, dass man das beibehalten will. Übrigens: Diese Form von Volksabstimmungen lässt sich nicht auf grössere Länder wie Deutschland übertragen. Manche mögen das glauben – so einfach ist das aber nicht.
Können Sie verstehen, dass sich viele Länder ins Nationale zurückziehen, weil Europa die Erwartungen nicht erfüllt hat?
Viele sehen die EU nicht als Antwort auf die Probleme, sondern als Teil der Probleme. Sie muss wieder Vertrauen zurückgewinnen. Und dazu muss sie sich ändern. Die Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik im Euroraum muss enger koordiniert werden, damit die Währung stabil bleiben kann.
Sollen die Staaten wieder mehr Autonomie geniessen?
Wir brauchen weniger Europa bei Fragen, die auf kommunaler, regionaler oder nationaler Ebene besser zu entscheiden sind. Aber wir brauchen mehr Europa bei zentralen politischen Fragen, die nur europäisch zu beantworten sind. Etwa in der Aussenpolitik oder bei der Grenzsicherung. Langfristig braucht es eine richtige europäische Regierung und ein Parlament, das mehr Rechte hat. Jeder Wähler in Europa muss mit seiner Stimme etwas bewegen können.
Gibt es für die Türkei noch einen Weg nach Europa?
Ich war 2004 dabei, als die EU beschlossen hat, die Beitrittsverhandlungen zu starten. Das hatte gute Gründe – geopolitische und ökonomische. Die Türkei ist ökonomisch erfolgreicher als Rumänien oder Bulgarien. Und: Damals war Ministerpräsident Erdogan jemand, der das Militär in seine Schranken gewiesen hatte, der auf einem europafreundlichen Weg war. In der Folge begingen beide Seiten grosse Fehler. Frau Merkel führte die Diskussion über eine privilegierte Partnerschaft, von der bis heute keiner weiss, was das sein soll. Das ist in der Türkei so verstanden worden, als wolle die EU sie nicht.
Sollen die Gespräche beendet werden?
Das wäre falsch. Die Türkei bleibt geopolitisch von ungeheurer Bedeutung, das Land ist Nato-Mitglied und liegt an der Schnittstelle zum Orient. Und was wollen wir ohne Türkei in der Flüchtlingsfrage machen? Man muss mit Respekt zur Kenntnis nehmen, dass die Türkei mehr als zwei Millionen Flüchtlinge aufgenommen hat. Wer die Beitrittsgespräche aus Wahlkampfgründen beenden will, macht es sich sehr einfach.
Ist Erdogans Regierungsform überhaupt mit der EU zu vereinbaren?
Beide Seiten müssen aus wirtschaftlichen und politischen Gründen ein Interesse daran haben, dass der Beitrittsprozess jetzt nicht kaputt gemacht wird.
Nun fordert Erdogan die Todesstrafe.
Die Todesstrafe ist mit den Kopenhagener Kriterien, die für den EU-Beitritt erfüllt sein müssen, nicht vereinbar. Deswegen lautet mein freundschaftlicher Rat an die Türkei: Lasst das! Denn sonst ist der Beitritt vom Tisch. Und die Konsequenz könnte sein, dass sich die Türkei weiter nach Asien orientiert.
Oder nach Russland.
Das tut die Türkei ja bereits.
Halten Sie Russland für gefährlich? Könnte es weitere Annexionen geben?
Die Sicherheit dieser Staaten ist durch die Nato garantiert. Bei der Krim aber prophezeie ich Ihnen: Es wird keinen russischen Präsidenten geben, der die Krim wieder zurückgibt. Dieser Realität muss man ins Auge schauen, ob man es akzeptieren mag oder nicht.
Warum ist das so?
Wenn Chruschtschow 1954 nicht geglaubt hätte, der Sowjetkommunismus werde so alt wie die katholische Kirche, dann hätte er die Krim niemals an die Ukraine übergeben. Es bestand ja kein Grund dafür. Die Russen haben in Sewastopol einen Militärhafen. Wenn die Ukraine Teil der Nato gewesen wäre, und das war der Plan, dann hätte dieser Hafen mitten im Nato-Gebiet gelegen. Eine groteske Vorstellung. Es gibt auch unterlassene Sensibilitäten des Westens gegenüber Russland. Von der Politik der Amerikaner ganz zu schweigen.
Ist es derzeit schwierig, mit Russlands Präsident Putin befreundet zu sein?
Ich bin ein freier Mensch. Und gerade in schwierigen Zeiten ist es doch wichtig, miteinander zu reden.
Wie fällt Ihre Zwischenbilanz zu US-Präsident Trump aus?
Es gibt eine Hoffnung. Ich erinnere an Ronald Reagan. 1980 haben wir alle gedacht: Um Gottes willen, ein Schauspieler wird jetzt US-Präsident, das kann doch nur schiefgehen! Und dann wurde er ein aussenpolitisch erfolgreicher Präsident.
Was stimmt Sie bei Trump positiv?
Ich glaube an die Institutionen in den USA, die Gerichte und den Kongress. Und aussenpolitisch wird es darauf ankommen, ob Trump auf seine Berater hört. Oder ob er weitermacht, Entscheidungen über Twitter zu verkünden.
Was ist der Unterschied zwischen Trump und Reagan?
Reagan hatte sehr gute Berater, auf die er gehört hat. Reagan hatte Respekt vor den demokratischen Institutionen. Insbesondere auch vor der Presse. Und das Dritte ist – jetzt kann man das ja sagen – er hatte seine Ehefrau Nancy, die auf ihn Einfluss hatte.
Trump hat seine Tochter Ivanka ...
... von der man noch sehen wird, ob sie eine gute Rolle spielen kann. Mir scheint, dass Donald Trump viel aus dem Bauch heraus entscheidet. Das geht bei schwierigen aussenpolitischen Fragen aber nicht.
Und innenpolitisch?
Da muss er nun seine vollmundigen Versprechen einhalten und Jobs in die USA holen. Aber wie soll das denn funktionieren? Glaubt ernsthaft jemand, in den USA könnten Kleider genäht werden zu Preisen wie in China oder Bangladesch? Das geht nicht. Auch die Vereinigten Staaten brauchen einen fairen Freihandel.
War Trumps Intervention in Syrien richtig, wo er die rote Linie markiert hat?
Menschlich ist es absolut verständlich, dass man auf einen barbarischen Akt wie diesen Giftgasangriff sofort reagieren will. Aber zuerst muss man doch zweifelsfrei klären, wer dafür verantwortlich war. Und wenn man das weiss, dann braucht es einen Beschluss des Weltsicherheitsrats. Wer, wenn nicht der Weltsicherheitsrat, darf rote Linien markieren?
Was halten Sie von Trumps Verachtung der Medien?
Das ist sehr gefährlich und diffamierend, wenn seriösen Medien unterstellt wird, dass sie nur Fake-News machen. Trump behandelt die Journalisten einer der besten Zeitungen der Welt, der «New York Times», wie Schulbuben.
Dank Trump steigt die Auflage der «New York Times» markant.
Das ist dann die richtige Reaktion vieler Menschen. Hoffentlich lernt Trump daraus und liest künftig mehr Zeitung als Twitter.
5 schnelle Fragen
Rolling Stones oder Beatles?
Beatles.
Hannover oder Berlin?
Hannover.
Putin oder Erdogan?
Unsinnige Frage.
Privatier oder Politiker?
Beides.
Schweiz oder Österreich?
Schweiz.