So spektakulär waren Wahlen in der Schweiz noch selten. Nicht genug damit, dass die Grünen einen historischen Sitzgewinn eingefahren haben. Auch ein zweiter Rekord wurde gebrochen: Nie zuvor haben so viele Sitze im Parlament die Partei gewechselt. «Die jüngsten Wahlen waren die instabilsten in der Schweizer Geschichte», sagt Politologe Claude Longchamp (62). Dies zeigt der Pedersen-Index. Dieser misst die Zahl der Sitze, welche die Partei gewechselt haben, dividiert durch die Gesamtzahl der Sitze. «Aktuell sind wir bei 165 Prozent, dem Höchstwert überhaupt», so Longchamp.
Die zunehmende Volatilität bei den Wähleranteilen nahm ihren Anfang in den 90erJahren n den 2010erJahren hat sich diese Entwicklung verstärkt. «Interessant ist, dass während der vergangenen drei Wahlen jeweils externe Faktoren die Wahlen entscheidend mit beeinflussten», so.
Fukushima, Flüchtlingswelle, Klimawandel
2011 war dies die Nuklearkatastrophe von Fukushima 2015 die Flüchtlingswelle, dieses Jahr ist es der Klimawandel. Dies zeigt: In einer globalisierten Welt spielen globale Themen national eine grössere Rolle denn je. Und: Die externen Schocks tragen dazu bei, dass die Parteienlandschaft bei den Wahlen stärker umgepflügt wird – auch weil die Mobilisierung der damit volatiler wird. So deuten erste Umfragen darauf hin, dass Junge und Frauen dieses Jahr überdurchschnittlich mobilisiert wurden, während ältere Stimmbürger eher zu Hause blieben. Longchamp ist überzeugt: «Die Zeiten, in der eine stabile Stammwählerschaft ihrer Partei auf Jahre hinaus die Treue hielt, sind vorbei.»
In direktem Gegensatz zu dieser Entwicklung hin zu grösseren Schwankungen steht die Zauberformel. Gemäss dieser informellen Regel, die seit 1959 zur Anwendung kommt, sind die stärksten drei Parteien im Bundesrat mit jeweils zwei Sitzen vertreten; die viertstärkste erhält einen Sitz. Das Verhältnis von 2-2-2-1 machte so lange Sinn, als es drei grössere Parteien und eine vierte, deutlich kleinere Partei gab. Spätestens seit den jüngsten Wahlen repräsentiert die Zauberformel den Wählerwillen mehr schlecht als recht: Nimmt man die Parteistärken im Nationalrat als Messgrösse, sind in der aktuellen Konstellation 31 Prozent der Wähler nicht im Bundesrat vertreten – so viele wie noch nie.
«Der Bundesrat ist kein Wohlfühlverein»
Angesichts der neuen, zersplitterten Parteienlandschaft wird die Forderung nach einer Anpassung der Zauberformel lauter. Für SP-Nationalrat Cédric Wermuth (33, AG) etwa ist klar: Die Mehrheit von vier rechtsbürgerlichen Bundesräten hat keine Berechtigung mehr. «Die Regierung soll auch den Wählerwillen abbilden», sagt er. «Ich sehe nicht ein, wieso wir sonst alle vier Jahre wählen sollten.» Auch die Abwahl eines amtierenden Bundesrats ist für ihn kein Tabu: «Der Bundesrat ist kein Wohlfühlverein.»
Politgeograf Michael Hermann (48) ist ebenfalls der Meinung, die historische Umwälzung müsse sich in der Regierung widerspiegeln. Sein Vorschlag: Bundesratssitze auf Zeit. Demnach hätten die Grünen derzeit Anspruch auf einen Bundesratssitz, jedoch «ohne langfristige Sitzgarantie», wie Hermann im «Tages-Anzeiger» schreibt: «Bei den nächsten Wahlen werden die Karten wieder neu gemischt.»
«Das heutige System sorgt für Stabilität»
Auf bürgerlicher Seite räumt FDP-Ständerat Andrea Caroni (39, AR) ein, die aktuelle Zusammensetzung des Bundesrats gebe den Wählerwillen nicht korrekt wider. Er sei offen für eine Anpassung der Zauberformel, so Caroni. «Wichtig ist aber, dass nicht jeder kleinste Ausschlag zu einer neuen Zusammensetzung des Bundesrats führt.»
Wie die Ausgestaltung der neuen Zauberformel konkret aussehen könnte, sei zu diskutieren, meint Caroni. Hermanns Idee eines Bundesratssitzes auf Zeit lehnt der FDP-Politiker ab. «Heute sind Bundesräte von ihren Parteien und Interessengruppen weitgehend unabhängig», so Caroni. Sässen Bundesräte permanent auf dem Schleudersitz, hätte dies negative Auswirkungen: «Sie wären dann in erster Linie um ihren Machterhalt besorgt.» Selbst Grünen-Fraktionspräsident Balthasar Glättli (47, ZH) kann sich für Hermanns Vorschlag nicht begeistern – obwohl seine Partei aktuell davon profitieren würde. Auch er findet: «Das heutige System, bei der Bundesräte acht bis zwölf Jahre im Amt bleiben, sorgt für Stabilität.»
«Konsens, dass die jetzige Zauberformel überholt ist»
Dennoch: Weitermachen wie bisher sei keine Option, sagt Glättli. «Die Tatsache, dass von fast allen Parteien Vorschläge kommen, zeigt: Es gibt einen Konsens, dass die jetzige Zauberformel überholt ist.» Offen sei einzig, wie die neue Formel lauten soll. Tatsächlich liegen die verschiedensten Vorschläge auf dem Tisch: von einer 2-2-1-1-1-Zusammensetzung über die Formel 2-1-1-1-1-1, bis hin zu einem System, bei dem statt der Parteien die politischen Blöcke im Zentrum stehen.
Das Problem: Bei all diesen Varianten müssten die etablierten Bundesratsparteien einen Sitz abgeben. Das macht eine Reform schwierig. Vielleicht deswegen hat SP-Chef Christian Levrat im letzten SonntagsBlick eine weitere Variante ins Spiel gebracht: die Erweiterung des Bundesrats auf neun Mitglieder. Chancenlos scheint das Vorhaben nicht, befürwortet FDP-Politiker Caroni die Idee doch ebenfalls. Nur die Grünen können damit nicht viel anfangen. «Eine Erweiterung des Bundesrats wäre ein langwieriger Prozess», sagt Glättli, «und damit ein Freipass für die Bundesratsparteien, die nächsten vier Jahre nichts zu beschliessen.»
Viele Vorschläge also und keiner, der derzeit mehrheitsfähig ist. Das zeigt: Der Kampf um die neue Zauberformel hat eben erst begonnen – und dürfte die Politik noch eine Weile auf Trab halten.