Der Balzan-Preis ist mit 750'000 Franken pro Preisträger einer der höchstdotierten Preise für Wissenschaftler. Er wird abwechslungsweise ein Jahr in Bern oder Rom verliehen. Am Freitag war die Preisübergabe in Bern. BLICK hat zwei der Preisträger getroffen: die Erinnerungsforscher Jan (79) und Aleida (70) Assmann.
BLICK: Wozu brauchen wir überhaupt Erinnerung?
Jan Assmann: Ohne Erinnerung sind wir nichts, haben keine Orientierung, kein Eigenleben, keine Selbständigkeit. Wir würden nur vegetieren.
Aleida Assmann: Wie das ist, sehen wir ja leider bei den Alzheimer-Patienten. Die Evolution hat den Menschen vielleicht auch darum mit Erinnerung ausgestattet, damit er nicht zweimal den gleichen Fehler macht.
Warum gab es denn zum Beispiel nach dem Ersten noch den Zweiten Weltkrieg?
Aleida Assmann: Es gibt unterschiedliche Erinnerung, nicht nur die gutartige, sondern auch die bösartige. Diese hält Rachegefühle und Ressentiments wach. Die Deutschen definierten die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg als schmachvoll und kultivierten sie als Propaganda, die als Mobilisierung für den Zweiten Weltkrieg funktionierte. Erinnerung kann eben auch gefährlich sein.
Wärs denn nicht besser, vieles einfach zu vergessen?
Aleida Assmann: Absolut ja! Vergessen ist ganz, ganz wichtig.
Gibt es auch ein Recht auf Vergessen, wie es zum Beispiel bei Internet-Suchmaschinen eingefordert wird – damit nicht jeder Blödsinn, den man je gemacht hat, ewig erinnert wird?
Aleida Assmann: Natürlich! Das gilt auch für jeden Menschen, der einmal im Gefängnis gesessen hat. Wir müssen dem Menschen Ablauffristen für Dinge gewähren, die ihm dann nicht vorgehalten werden können. Diese Rhythmen existieren. Das Internet ist eine Quelle, die jeder nutzen kann, und erfordert darum neue Rechtsgrundsätze.
Gibt es die?
Jan Assmann: Nein, streng rechtlich gesehen.
Aleida Assmann: Aber es gibt die Notwendigkeit des Vergessens und seine heilsame Kraft. Und man hat ein moralisches Recht darauf, dass gewisse Dinge vergessen werden.
Wie meinen Sie das?
Jan Assmann: Wenn man jemandem Unrecht tut und sich entschuldigt, hat der, dem diese Entschuldigung gilt, die Pflicht, das erlittene Unrecht wieder zu vergessen. Wenn der andere sich weiter daran erinnert, nennt man das nachtragend – und das ist nicht gut.
Aleida Assmann: Verzeihen ist tatsächlich eine Form, um das, was zwischen den Menschen steht, wieder auszuräumen und den Kontakt zu erneuern. Wir sind fehlbare Wesen und bauen viel Mist.
Das Internet vergisst aber nichts. Ist das jetzt gut oder schlecht?
Aleida Assmann: Früher was es aufwendig, sich an etwas zu erinnern. Vergessen ging von selbst. Heute ist es umgekehrt. Und wir können nicht mehr tilgen, was schon gelaufen ist, sondern nur de-linken, damit Inhalte nicht mehr zu finden sind. Unsere Speichersituation macht alles verfügbar, und das kann auch gegen andere Menschen wiederverwendet werden. Darauf muss das Recht reagieren.
Erinnern Sie sich an Ihre erste Begegnung und was Sie voneinander gedacht haben?
Aleida Assmann: Ich war schon als Kind in seinem Elternhaus, kann mich aber nicht an eine Begegnung erinnern. Das erste Mal bewusst begegnet sind wir uns bei einem Familienfest. Er hat Gitarre gespielt, Balladen gesungen und schöne Bilder dazu gezeigt, die er gemalt hat. Das hat mir imponiert!
Jan Assmann: Dann hat auch sie eine Ballade gesungen und Bilder gezeigt.
Aleida Assmann: Wir waren Konkurrenten und Seelenverwandte.
Wie bis heute in der Arbeit. Hätten Sie ohne einander je so viel erreicht?
Aleida Assmann: Das kann man nicht alleine schaffen.
Jan Assmann: Ich jedenfalls nicht.
Wie möchten Sie, dass man sich an Sie erinnert?
Aleida Assmann: Ich hätte gern, wenn sich die Studentinnen erinnern würden, dass Wissenschaftskarriere und Familie möglich sind.
Jan Assmann: Als an jemanden, der über sein Fachgebiet hinausgedacht hat.
Wissen Sie schon, was Sie mit dem Preisgeld machen werden?
Jan Assmann: Natürlich, wir haben schon minutiös alles geplant.
Aleida Assmann: Es wird um kollektive Erinnerungen in den Städten gehen.
Jan Assmann (79) war bis 2003 Professor für Ägyptologie an der Uni Heidelberg, Almeida Assmann (70) bis 2014 Professorin für Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Zusammen entwickelten sie die Theorie des kulturellen Gedächtnisses. Damit meinen sie «die Tradition in uns, die über Generationen, in jahrhunderte-, ja teilweise jahrtausendelanger Wiederholung gehärteten Texte, Bilder und Riten, die unser Zeit- und Geschichtsbewusstsein, unser Selbst- und Weltbild prägen». Sie sind seit 49 Jahren verheiratet und haben fünf Kinder. Diesen Winter halten sie an der Uni Luzern die Gastvorlesung «Gedächtnis – Erinnern und Vergessen».
Jan Assmann (79) war bis 2003 Professor für Ägyptologie an der Uni Heidelberg, Almeida Assmann (70) bis 2014 Professorin für Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Zusammen entwickelten sie die Theorie des kulturellen Gedächtnisses. Damit meinen sie «die Tradition in uns, die über Generationen, in jahrhunderte-, ja teilweise jahrtausendelanger Wiederholung gehärteten Texte, Bilder und Riten, die unser Zeit- und Geschichtsbewusstsein, unser Selbst- und Weltbild prägen». Sie sind seit 49 Jahren verheiratet und haben fünf Kinder. Diesen Winter halten sie an der Uni Luzern die Gastvorlesung «Gedächtnis – Erinnern und Vergessen».