Auch in Japan muss sich die Bahn mal entschuldigen. Anders als die SBB aber, weil sie zu früh statt zu spät dran ist. So geschehen vor zwei Jahren, als sich der Tokioter Tsukuba-Express erdreistete, statt wie geplant um 9.44 Uhr und 40 Sekunden schon um 9.44 Uhr und 20 Sekunden abzufahren. «Wir entschuldigen uns zutiefst für die Umstände, die wir Ihnen, den Kunden, bereitet haben», hiess es später auf der Website des Bahnunternehmens. Dabei hatte sich gar keiner beschwert.
40 Sekunden Verspätung – pro Jahr
Wahre Geschichte oder Legende? Egal – Japan ist ein Bahn-Traum. Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit und penible Sauberkeit sind der Stolz der Nation. Das gilt zuallererst für den Shinkansen, den Hochgeschwindigkeitszug, der die grossen Metropolen des Inselstaats verbindet.
«Ein Shinkansen hat eine Verspätung von durchschnittlich 40 Sekunden pro Jahr – das ist schon beeindruckend», sagt Martin Bütikofer (58), Direktor des Verkehrshauses Luzern und ausgewiesener Japan-Experte. Er weist darauf hin, dass der Zug aber auch ein eigenes Netz hat und sich die Schienen nicht mit Regional- und Güterverkehr teilen muss.
Die Insellage macht es einfacher
Doch es gibt weitere Gründe dafür, dass Japans Bahnen so zuverlässig sind wie ein Schweizer Uhrwerk. Die Insellage beispielsweise. Auf Japans Gleisen sind nur japanische Bahnen unterwegs – und nicht verspätete Züge aus dem Ausland. Ein Vorteil, den die SBB nie haben werden.
Doch die Japaner tun laut Bütikofer auch selbst viel für die Zuverlässigkeit: So setzen sie auf standardisiertes Rollmaterial, was die Kundenlenkung einfacher macht. «Die Fahrgäste wissen zentimetergenau, wo der Wagen hält.» Und: «Doppelstöcker-Züge etwa findet man in Japan weniger – weil das Ein- und Aussteigen bei hohem Passagieraufkommen zu lange dauert.»
Man ist stolz, Bähnler zu sein
Der wichtigste Unterschied aber ist ein kultureller. «Die Japaner messen der Tradition einen grossen Wert bei», sagt Bütikofer. Man sei stolz, Bähnler zu sein. «Man hat das Gefühl, dass die Leute nicht einfach nur dort arbeiten, um Geld zu verdienen, sondern weil sie es als Berufung verstehen.»
Das merke man in der Detailversessenheit – alles wird korrekt und genau gemacht. «Etwa bei der Reinigung», nennt Bütikofer ein Beispiel. «Da wird der Zug an der Endhaltestelle schnell gesperrt, in drei Minuten gereinigt, sogar die Sitze werden in Fahrtrichtung gedreht – und schon ist er wieder tipptopp einsatzbereit.»
Allerdings: Das Ganze hat natürlich seinen Preis. Wie hoch der ist, weiss auch Bütikofer nicht. «Angaben zu Kosten und Rentabilität sind von den japanischen Bahnen schwer zu bekommen – aber eigentlich sollte es teurer sein, zwei parallele Infrastruktursysteme zu warten.»