An CVP-Präsident Gerhard Pfister ist einiges aussergewöhnlich. Für einen Politiker zum Beispiel, dass er eine Lieblingsbuchhandlung hat. Als BLICK ihm vorschlägt, das grosse Oster-Gespräch mit ihm dort zu führen, winkt Pfister zuerst ab. Schliesslich trifft man sich doch zwischen den Regalen, der Buchhändler öffnet für seinen prominenten Stammkunden am Ruhetag eigens seinen Laden in der Luzerner Altstadt.
BLICK: Schämen Sie sich etwa fürs Lesen?
Gerhard Pfister: Nein, jetzt sitzen wir ja hier. Aber in der Politik muss man von den böswilligsten Interpretationen ausgehen. Und hier wäre es jene, dass ich derart abgehoben sei, dass ich nicht mehr wisse, was das Volk denkt.
Sie sind privilegiert aufgewachsen. Ihr Grossvater gründete das Internat «Dr. Pfister» in Zug, Ihr Vater war eine Autoritätsperson in der Region – beide waren CVP-Kantonsräte. Inwiefern stecken die beiden im Politiker Pfister?
Ich bin mit dem Credo aufgewachsen, dass ich der Gesellschaft etwas zurückgeben muss. Diese Prägung der Vorfahren fühle ich täglich.
Statt das Lebenswerk Ihres Grossvaters weiterzuführen, mussten Sie die Privatschule liquidieren. Haben Sie versagt?
Nein, ich habe die Schliessung des Internats nie als Bruch empfunden. Ich trauere der Vergangenheit nicht nach. Seit dem Jahr 2001 hat sich meine Lebenseinstellung sowieso grundsätzlich verändert.
2001 haben Sie den Amoklauf im Zuger Parlament überlebt. Ihr Sitznachbar und guter Freund wurde erschossen.
Da hatte ich mir geschworen: Ab jetzt bemängelst du gar nichts mehr an deinem Leben! Dieses Grauen hat jede Angst relativiert.
Statt Sie in Ihrer Religion zu bestärken, habe das Attentat Ihren Glauben an Gott erschüttert, sagten Sie einmal.
Ich kam lebend davon, andere starben, weil sie am falschen Platz sassen. Da finden Sie keinen tieferen Sinn darin. Nach dem Attentat haderte ich sehr mit Gott. In den Augen der Witwe meines Freundes sah ich die Frage: Warum lebst du und nicht mein Mann? Diese Frage treibt mich seither um.
Sie hadern, warum haben Sie den Glauben an Gott nicht ganz verloren?
Ich wurde erschüttert in meinem naiven Religionsverständnis, Gott müsse in das Leben eingreifen. Offensichtlich macht er es nicht. Ganz abwenden vom Glauben konnte ich mich nicht.
Sie sind CVP-Präsident und gleichzeitig ein grosser Zweifler am Christentum ...
(zögert) Ja. Das widerspricht sich nicht zwingend. Das C bei der CVP ist die politische Dimension, mein Glaube die persönliche.
Aber Religion ist politisch, wenn man wie Sie mit christlichen Werten Politik macht.
Man kann bei der CVP sein oder unsere Politik gut finden, ohne an Gott zu glauben. Mein Verstand sagt mir auch etwas anderes, als es der Glaube tut. Das zusammenzubringen, ist nicht einfach.
Wann knieten Sie zuletzt im Beichtstuhl nieder?
Das ist sicher mehr als zehn Jahre her. Um zu beichten, gehe ich in die Messe oder besuche Bussfeiern. Beichten ist Selbstreflexion: Ich muss zu meinen Fehlern stehen. Und mir vornehmen, künftig etwas weniger zu begehen. Aber der Glaube wäscht mich nicht von meinen Sünden rein.
Das können Sie mir nicht erzählen. Ein bisschen Absolution holt sich jeder Katholik, wenn er beichten geht. Beichten und Gespräche mit dem Pfarrer sind ein Psychiaterersatz, nicht?
Ja, das mag sein. Ich war noch nie auf der Couch. Aber ich habe das starke Bedürfnis, über mich nachzudenken.
Sie haben das Attentat ohne Therapie verarbeitet?
Ja. Aber ich merkte, dass die körperlichen und seelischen Folgen in mir hochsteigen. Es hat zehn Jahre gedauert, bis ich nicht mehr wöchentlich daran denken musste. Bis heute prägt das Attentat meine Politik. Ich lasse mich von der Politik nicht mehr vereinnahmen. Mir wurde darum schon vorgeworfen, das ganze Bundeshaus-Gebaren sei mir zuwider. Doch ich sehe es so: Wer zu sehr aufgeht in der Politik, riskiert, dass die Politik zur Droge wird.
Ihre Mutter starb, als Sie 8-jährig waren. Was hat die Jugend ohne Mutter mit Ihnen gemacht?
(denkt lange nach) Sie war vor dem Tod sechs Jahre lang leukämiekrank. Es war für uns normal, dass das Mami Tage hatte, an denen sie das Bett vor Schwäche nicht verlassen konnte. Kindermädchen kümmerten sich um mich und meine Geschwister. Mein Charakterzug, dass ich vieles mit mir selbst ausmache, rührt daher. Beim Vater konnte ich die emotionale Last nicht abladen, das wäre die Rolle der Mutter gewesen. Ersatz gab es nicht: Für meinen Vater war immer klar, dass er nie mehr heiraten wird – aus Liebe zu ihr.
Durch die Krankheit Ihrer Mutter wissen Sie, was Schwäche bedeutet. Es wäre naheliegend, dass Sie Politik für Schwächere betreiben – sich beispielsweise für mehr AHV und gegen die Kürzung der Ergänzungsleistungen einsetzen. Genau das Gegenteil ist der Fall: Sie gehören zu den Sparrittern der CVP.
Gerade bei den Ergänzungsleistungen ist die CVP bei weitem nicht so weit gegangen, wie FDP oder SVP das wollten. Der sozialste Staat ist jener, der seine Hilfe jenen zukommen lässt, die es am nötigsten haben. Darum soll man schauen, dass die, die eigentlich arbeiten könnten, nicht mit staatlichen Geldern davon abgehalten werden.
Bei der AHV ist die CVP für die eine oder andere Seite Mehrheitsbeschafferin.
Nein, jetzt geht es darum, alle Parteien ins Boot zu holen. Aber wenn ich sehe, dass die Linke schon beim gleichen Rentenalter für Frauen und Männer aussteigt, wird der Kompromiss im Nationalrat sehr schwierig. Also muss die CVP schauen, dass wir möglichst viele soziale Forderungen der SP bei der FDP und SVP durchbringen.
In der CVP-Fraktionsfamilie sei Pfister der eigenwillige Sohn, der etwas zu oft mit den ungezogenen Jungs von rechts nebenan spielt, heisst es.
Ein gutes Bild! Ich teile einfach nicht diesen in der CVP-Fraktion verbreiteten Anti-SVP-Reflex. Was mich bei der SVP abstösst, ist dieser Zwang zur Einheit. Und auch der Stil. Wenn man die EU mit dem Dritten Reich vergleicht, ist bei mir Schluss. Das mache ich nicht, selbst wenn es Stimmen bringen würde.
Sie sind ruhiger geworden, seitdem Sie Parteipräsident sind.
Ja, früher war mir wichtig, dass ich in der Fraktion den stillschweigenden Konsens aufbreche. Wir müssen in der CVP besser streiten lernen. Mich regt die mangelnde Diskussionskultur bei uns wirklich auf.
So gern Sie im Bundeshaus streiten – Ihre Frau Franziska sagt, der Privatmann Gerhard unterscheide sich erheblich vom Politiker Pfister. Sind Sie einer, der – kaum ist er zu Hause – die Zügel an die Frau abgibt?
Ja, das ist tatsächlich so. Franziska liest Artikel über mich und erkennt mich nicht wieder. Eigenartigerweise ist bei uns zu Hause Politik selten ein Thema. Ich erzähle wenig.
Sie sind seit 24 Jahren verheiratet. Wie ist es, als Familienpolitiker kinderlos zu sein?
Ich muss sehr zurückhaltend sein. Ich würde Familien nie irgendwelche Modelle vorschreiben wollen oder bei Erziehungsthemen mitreden.
Hadern Sie damit, nicht Vater geworden zu sein?
Nein. Meine Frau und ich hatten einen starken Kinderwunsch, es hat aber keine Kinder gegeben. Für uns war klar, dass wir nicht auf anderen Wegen Eltern werden wollen. So haben wir es akzeptiert. Ich bin ein sehr glücklicher Mensch, hadern will und kann ich nicht.
Wären Sie heute auch Spitzenpolitiker, wenn Sie Kinder hätten?
Ich weiss es nicht. Das müssen Sie meine Frau fragen. Wenn Sie eine solche Karriere machen, brauchen Sie eine Frau, die sehr viel aushält und verzichtet.
Die gesellschaftspolitische Dimension von kinderlosen Politikern ist interessant. Ignazio Cassis meinte, er wäre nicht Bundesrat geworden, wäre er Vater. Das sagt viel darüber aus, wie unvereinbar die Karriere mit der Familie geworden ist.
Tatsächlich. Von den jetzigen Bundesräten sind einige kinderlos, wenn ich es mir so überlege.
Wir sind umgeben von Büchern – die Frage nach dem «Buch der Bücher» liegt auf der Hand.
Ich lese ganz selten in der Bibel. Mit Bibeltexten werde ich in der Kirche konfrontiert. In ihr stehen Dinge, die wirklich nicht mehr zeitgemäss sind. «Auge um Auge, Zahn um Zahn» etwa.
Welche literarische Figur kommt Ihrem Inneren am nächsten?
(überlegt lange) Beim «Mann ohne Eigenschaften» von Robert Musil – einem Jahrhundertroman – kann ich mich mit der Hauptfigur Ulrich anfreunden. Aber das Buch hat für Ihre Frage einen unpassenden Titel (lacht).
Dann erklären Sie.
«Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, dann muss es auch Möglichkeitssinn geben», sagt Ulrich, ein Naturwissenschaftler. Er blickt analytisch auf die Welt, erkennt aber, dass vieles möglich ist, was er nicht zu begreifen vermag. Das entspricht mir sehr.
Das andere Buch, das unsere Gesellschaft beschäftigt, ist der Koran. Sie betreiben mit der Islamdebatte – wie etwa dem Kopftuchverbot an Schulen – Wahlkampf.
Es ist meine persönliche Überzeugung, dass wir beim Islam vor grossen Herausforderungen stehen und dass die CVP auf die Sorgen, die die Menschen haben, Antworten geben muss. Den Vorwurf, dass es reiner Wahlkampf sei, weise ich entschieden zurück.
Die CVP ist seit Jahren im Tiefflug. In der Innerschweiz haben Sie erneut erhebliche Verluste eingefahren. Jetzt versuchen Sie mit Dingen wie dem Kopftuchverbot an Schulen Pflöcke einzuschlagen und schüren damit Ängste.
Der Abwärtstrend ist demotivierend. Wir machen noch immer zu viele Fehler. Aber diesen Trend gibt es bei der CVP seit drei Jahrzehnten – das kann ich nicht in zwei Jahren ändern. Als Präsident muss ich die CVP klar positionieren, um mittelfristig Erfolg zu haben. Wir können die Antworten auf die Sorgen der Menschen nicht anderen Parteien überlassen.
Sie finden, der Islam gehöre nicht zur Schweiz – aber die Muslime, die hier leben, schon. Wie meinen Sie das?
Historisch gesehen hat der Islam unsere Kultur nicht geprägt. Und ich verlange, dass Muslime, die hier leben, sich zum Rechtsstaat und zu unseren Werten bekennen. Aber ich gebe zu, dass Wertefragen eine Gratwanderung sind. Ich will niemandem einen Lebensstil aufzwingen.
Sie setzen bei Ihren Schäfchen ein moralisch tadelloses Verhalten voraus. Aber CVP-Männer sind auch nur gewöhnliche Sünder – Ihr Ex-Präsident Darbellayzeugte ausserehelich ein Kind, und der Skandal um CVP-Nationalrat Yannick Buttet schadet der CVP.
Ja, mit solchen Skandalen gewinnen Sie keine Wählerstimmen. Aber es ist überhaupt nicht mein Wille, aus CVPlern besonders tugendhafte Menschen zu machen.
Wieso haben Sie Herrn Buttet eigentlich nicht aus der Partei geworfen?
Weil ich das nicht kann und nicht will. Sein Verhalten – wenn denn alles stimmt – finde ich trotzdem inakzeptabel. Es stört mich, wenn sich jemand beim Pilgern nach Lourdes ablichten lässt – und sich dann, kaum ist die Kamera weg, derartig verhält. Für mich selbst würde ich auch aber gerne einmal nach Santiago pilgern. Wenn ich abgewählt werde, mache ich das. Aber sicher nicht, um Busse zu tun.
Ist Ihnen die durch Buttet angestossene Sexismusdebatte im Bundeshaus eigentlich auf die Nerven gegangen?
Die Sexismusdebatte hat ihre Berechtigung, aber auch ihre Übertreibung. Das Fehlverhalten ist ermöglicht worden durch Macht und verachtende Frauenbilder: Und das muss man aufarbeiten. Aber in aller Regel wissen die Männer, ob ihr Verhalten okay ist oder nicht.)))
Apropos Frauenbild: Ihre männlichen CVP-Kollegen haben es geschafft, ein fertiges Gesetz für die Lohngleichheit wieder zurück in die Werkstatt zu schicken. Die CVP-Frauen im Ständerat wurden desavouiert. Sie hatten keine Ahnung, was ihre männlichen Parteikollegen vorhatten.
Unser Fehler war, dass wir vor der Abstimmung nicht genügend miteinander geredet hatten.
Zwei Wochen später hatten die Herren ein schlechtes Gewissen und nickten eine Geschlechterquote light für den Bundesrat ab. Da hatten die CVP-Ständeräte wohl Schimpfe gekriegt. Dem Vernehmen nach tobte Bundesrätin Doris Leuthard.
Es gab keine Schimpfe von mir oder Frau Leuthard, sondern harte interne Manöverkritik, die nötig war. Aber auch bei der Geschlechterquote light bin ich nicht sicher, ob dies der Weisheit letzter Schluss ist. Die Parteien müssen ihre Hausaufgaben machen und Frauen Jahre vor einer Bundesratsvakanz aufbauen. Insofern können die Frauen von den Tessinern lernen. Dort hatte man geschaut, dass es in jeder Partei einen wählbaren Tessiner oder eine Tessinerin hat.
Ihre Partei könnte dafür sorgen, dass wir bald nur noch eine Frau im Bundesrat haben. Sind Sie eigentlich ein Antifeminist?
Das sicher nicht. Ich habe beispielsweise nicht begriffen, warum Karin Keller-Sutter damals nicht gewählt wurde. Schon im Januar 2017 ging ich auf die CVP-Frauen zu. Ich habe von ihnen gefordert, dass sie sich schnell auf eine Frau einigen. Ich sagte ihnen, wenn sie wirklich wollen, dass Doris Leuthard durch eine Frau ersetzt wird, sie das gut vorbereiten müssen. Sicher ist: Die CVP kann es sich nicht leisten, keine Frau auf dem Ticket zu haben.
Was muss passieren, damit Sie sagen: «Ja, ich will Bundesrat werden»?
Ich habe noch immer die Hoffnung, dass Frau Leuthard länger macht als angekündigt und über das Ende dieser Legislatur hinaus im Amt bleibt.
Ach ja? Ist diese Hoffnung begründet?
Ja, und ich hoffe es auch persönlich. Es wäre das Beste für die Partei und das Land, wenn Doris Leuthard noch eine weitere Legislatur im Bundesrat bliebe.
Aber geben Sie es doch zu: Sie haben eine solche Freude an der Macht, Sie träumen davon, Bundesrat zu werden.
Ja, ich habe Freude an der Ausübung der Macht, soweit ich Macht habe als Parlamentarier. Mit der Bundesratsfrage werde ich mich auseinandersetzen, wenn sich die Frage stellt.
Aber Ihre Ambitionen sind spürbar.
Ich habe nie aus Taktik so getan, wie wenn ich etwas widerstrebend machen würde. Die Formulierung «wenn es denn sein muss» würde ich nie benutzen. Aber fragen Sie mich wieder, wenn die Zeit gekommen ist.
Gerhard Pfister (55) wuchs auf dem Ägeriberg ZG auf. Nach der Primarschule besuchte er die Klosterschule Disentis. Er hat in Freiburg Literatur und Philosophie studiert und über den Schriftsteller Peter Handke doktoriert. Nach dem Tod des Vaters führte er dessen Schulinternat bis zur Schliessung 2008 weiter.
Von 1998 bis 2003 sass Pfister im Zuger Kantonsrat, wo er am 27. September 2001 während einer Ratssitzung den Amoklauf von Friedrich Leibacher miterlebte, bei dem 14 Politiker den Tod fanden, bevor sich Leibacher selbst das Leben nahm.
2003 wurde Pfister in den Nationalrat gewählt. 2016 übernahm er das Präsidium der CVP Schweiz.
Gerhard Pfister (55) wuchs auf dem Ägeriberg ZG auf. Nach der Primarschule besuchte er die Klosterschule Disentis. Er hat in Freiburg Literatur und Philosophie studiert und über den Schriftsteller Peter Handke doktoriert. Nach dem Tod des Vaters führte er dessen Schulinternat bis zur Schliessung 2008 weiter.
Von 1998 bis 2003 sass Pfister im Zuger Kantonsrat, wo er am 27. September 2001 während einer Ratssitzung den Amoklauf von Friedrich Leibacher miterlebte, bei dem 14 Politiker den Tod fanden, bevor sich Leibacher selbst das Leben nahm.
2003 wurde Pfister in den Nationalrat gewählt. 2016 übernahm er das Präsidium der CVP Schweiz.