Herr Pfister, der Bundesrat hat am Donnerstag erste Lockerungen des Lockdowns beschlossen. Sind Sie zufrieden mit dem Krisenmanagement der Landesregierung?
Gerhard Pfister: Die unmittelbare Krisenbewältigung ist Sache des Bundesrates und nicht der Parteien. Mit Blick auf die medizinische Bekämpfung des Coronavirus und der Abfederung der unmittelbaren wirtschaftlichen Folgen hat der Bundesrat einen guten Job gemacht. Auch wenn man manches mit etwas Abstand wohl anders angegangen wäre.
Welche Entscheide meinen Sie konkret?
Ich meine das gar nicht als Vorwurf. Die Spitäler haben ihre Kapazitätsgrenzen nicht erreicht, vielleicht hat der Bund den Ansturm etwas überschätzt. Aber das sagt sich so einfach. Nochmals: Die Massnahmen haben sich bis jetzt bewährt und ich habe keine Mühe zu sagen, dass der Bundesrat, aber auch die kantonalen Regierungen gute Arbeit leisten. Die Schweiz steht besser da als die meisten westlichen Länder. Das liegt einerseits an den raschen Entscheiden der Regierung, aber auch an einer Gesellschaft, die bereit und willens ist, diese harten Einschnitte mitzutragen.
Allerdings stellen Parlamentarier durchaus Forderungen – etwa für jene Selbständigen, die lange auf Hilfe warten mussten.
Natürlich gibt es in Krisen blinde Flecken. Jenen, den Sie ansprechen, wurde nun korrigiert. Bei anderen kann das Parlament immer noch nachfassen. Aktuell muss der Bundesrat zum Beispiel auch dem Tourismus, der Gastronomie und den Kulturschaffenden bald eine klarere Perspektive aufzeigen.
Demnach ist es doch wichtig, dass das Parlament wieder das Steuer in die Hand nimmt?
Sie vermischen zwei Phasen. Der Bundesrat handelt aktuell mit Notrecht. Das ist auch Recht und keine Diktatur, wie ihm vorgeworfen wurde. Wenn wir aber über die langfristigen Folgen der Pandemie sprechen, dann sind natürlich Parlament und Parteien in der Verantwortung. Diese politische Auseinandersetzung wird kommen müssen.
Angesichts der drohenden Rezession hat diese Auseinandersetzung schon begonnen: FDP und SVP predigen Zurückhaltung, für die Linke ist die Zeit gekommen für staatliche Investitionsprogramme. Ihnen und Ihrer Fraktion wird eine entscheidende Rolle zukommen, die Stimmen der Mitte werden entscheiden.
Das ist mir bewusst. Die Haltung der CVP ist klar: Der Staat hat zu Recht massiv in Gesellschaft und Wirtschaft eingegriffen. Es ist ebenso zu Recht Aufgabe des Staates, der Wirtschaft unter die Arme zu greifen. Die Wirtschaftskrise kommt, und dann wird staatliches Handeln auch sehr viel kosten, wenn es den Abschwung dämpfen soll. Auch dann wird Solidarität nötig sein. Wie jetzt.
Wo könnte der Bund ansetzen?
Dort, wo es Sinn macht, kann man Infrastruktur- oder auch Digitalisierungsprojekte vorantreiben. Und dann gibt es Branchen, da zeichnet sich ab, dass der Bund finanziell helfen muss, zum Beispiel in der Luftfahrt oder im Tourismus. Vieles wird weiter davon abhängen, wie stark die Weltwirtschaft sich abschwächt und wie gravierend die Folgen für die exportorientierten Schweizer Branchen ausfallen.
Und wie soll dies finanziert werden? Die Krisenbewältigung verschlingt schon heute Milliarden.
Die vergleichsweise tiefe Schweizer Staatsverschuldung verschafft dem Bund Handlungsspielraum. Auch die Verwendung von Ausschüttungsreserven der Nationalbank ist denkbar.
Dabei haben Sie die Schuldenbremse stets verteidigt. Soll der Bund nun die Geldschleusen öffnen?
Die Schuldenbremse muss ein wichtiges finanzpolitisches Instrument bleiben. Nur geben wir in diesen Tagen mindestens so viel Geld aus, wie wir in beinahe zwei Jahrzehnten eingespart haben. Da fallen Schulden an, die sich nicht kurzfristig tilgen lassen. Die Schuldenbremse wird künftig flexibler gehandhabt werden müssen. Das gilt für die Höhe der Ausgaben wie für die Frist, während der das Geld wieder eingespart werden muss.
Also doch eine Kehrtwende: weg von der Ideologie des Sparens, hin zu mehr Staatsinterventionen?
Mit Ideologie hat das wenig zu tun, aber viel mit pragmatischer Politik.
Warum soll ausgerechnet die grösste Herausforderung seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges dem Pragmatismus zum Durchbruch verhelfen?
Der schrittweise Ausstieg aus den Lockdown-Massnahmen bedeutet für die Schweiz zugleich den Einstieg in die grösste wirtschaftliche und gesellschaftliche Herausforderung der letzten Jahrzehnte. Dabei werden uns altbackene ideologische Debatten nichts nützen. Weder der Sozialismus noch der ungebremste Kapitalismus liefern das notwendige Rüstzeug für die nächsten Monate und Jahre. Die Corona-Krise markiert eine historische Zäsur, vergleichbar mit dem 11. September 2001 oder dem Mauerfall von 1989. Die Welt, und mit ihr die Schweiz, wird eine andere sein, wenn die Pandemie erst einmal überwunden ist. Darauf müssen wir uns einstellen.
Und wie?
Die Globalisierung ist keine Einbahnstrasse in Richtung Glück. Ich plädiere nicht für Abschottung, aber wenn wir die vergangenen Wochen Revue passieren lassen, wären wohl alle im Land froh, wenn manche Produktionsketten in der Schweiz oder zumindest in Europa liegen würden.
Welche meinen Sie?
Ein Beispiel: Heute hat Indien auf viele medizinische Wirkstoffe ein Monopol. Was glauben Sie, was passiert, wenn das Virus dort voll einschlägt? Es liegt im ureigenen Interesse der Schweizer und Europäer, diese Produktion stärker auf unseren Kontinent zu verlagern. Auch das ist pragmatisch.
Ich nehme an, dass Sie die Rolle des Pragmatikers für die CVP reserviert haben.
Die Mitte ist zum Pragmatismus und zur Flexibilität verdammt. Wir wollen keine strikt liberale Ordnungspolitik vertreten, das überlassen wir dem Freisinn. Genauso spart sich die CVP populistische Zwischenrufe, wie sie die Polparteien pflegen. Unter normalen Umständen mag das zuweilen ein Nachteil sein, künftig kann dies die Partei stärken. Noch einmal: Corona ist ein Wendepunkt, der die westlichen Demokratien zwingen wird, Wirtschaft und Gesellschaft jenseits von Liberalismus und Sozialismus zu erneuern.