Darum gehts
«Sie ist mit den Nerven am Ende», erzählt die Rechtsberaterin des Beobachters: Seit Monaten rennt eine Frau, die sich bei ihr gemeldet hat, vergeblich ihren Kinderzulagen hinterher.
Die Gastroangestellte war innert kurzer Zeit bei drei verschiedenen Betrieben beschäftigt – und nun will keiner für die Zulagen zuständig sein. Statt dass Geld fliesst, schreiben sich Familienausgleichskassen gegenseitig böse Briefe.
Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.
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Gelder in der Höhe von 6,6 Milliarden Franken
Familienzulagen für Erwerbstätige werden von den Arbeitgebern finanziert und sollen die Kosten abfedern, die Kinder ihren Eltern verursachen. Dafür werden – nicht automatisch, sondern auf Antrag – über die Firmen Kinder- und Ausbildungszulagen ausgerichtet.
In einigen Kantonen kommen einmalige Geburts- und Adoptionszulagen dazu. 2023 wurden 6,6 Milliarden Franken an 1,4 Millionen Bezügerinnen und Bezüger verteilt.
«Ein aufgeblähtes Konstrukt»
Für diese Aufgabe existiert ein riesiger administrativer Apparat – ein «schier undurchschaubarer Dschungel», wie es Sabine Steiger-Sackmann formuliert. Ein aufgeblähtes Konstrukt, anfällig für Zuständigkeitskonflikte und Doppelspurigkeiten, sagt sie. Steiger-Sackmann ist Anwältin und langjährige Dozentin für Arbeits- und Sozialversicherungsrecht an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Sie befasst sich intensiv mit der Materie.
Beispielhaft für das Bürokratiemonster Familienzulagen steht der Wildwuchs an Familienausgleichskassen (FAK). Sie richten die entsprechenden Zahlungen aus. Es gibt drei Typen: eine kantonale Kasse in allen 26 Kantonen, Verbandskassen, die an die von Branchenverbänden geführten AHV-Ausgleichskassen angeschlossen sind, sowie eigenständige FAK.
Hunderte amtliche Verästelungen
Insgesamt kommt man so in der kleinen Schweiz auf über 220 Durchführungsstellen. Sie alle brauchen Personal, um eigene Abrechnungen zu führen und zu prüfen, Berichte zu schreiben, Statistiken zu erstellen. Das Verzeichnis der zugelassenen FAK – 79 A4-Seiten – führt gar mehr als 900 Stellen auf. Hier sind aber die Kassen, die in diversen Kantonen tätig sind, mehrfach gezählt.
Nicht minder beeindruckend ist das Regelwerk, mit dem die Kassen arbeiten: Die Wegleitung zum Bundesgesetz über die Familienzulagen umfasst auf 164 Seiten mehr als 800 Randziffern, damit über alle möglichen Konstellationen und Sonderfälle entschieden werden kann. Über Fälle wie den von Daniel Signer, der tatsächlich anders heisst.
Auch Signer mochte dem Geld eigentlich nicht mehr hinterherrennen. Doch mit vier Kindern ist die Familie auf die 850 Franken monatliche Kinder- und Ausbildungszulagen angewiesen. Es brauchte aber fast ein Jahr Geduld, ehe ihre Ansprüche vollumfänglich eingelöst waren. «Ohne juristischen Beistand hätte ich kapituliert», sagt Signer.
Jedes Jahr erneut grosse Unsicherheit
Im umfangreichen Mailverkehr mit der kantonalen Ausgleichskasse zieht sich eine Phrase der Sachbearbeiterin wie ein Mantra durch: «Leider sind noch weitere Abklärungen mit den involvierten Stellen nötig.»
Im Gestrüpp der Regularien stolperten die Signers mit ihrer Familienkonstellation Mal für Mal. Daniel Signer ist der leibliche Vater von zwei der vier Kinder; die beiden älteren hat seine Frau in die Ehe gebracht. Und er lebt im Kanton Bern, arbeitet aber im Solothurnischen.
Die Mutter wiederum, die für alle Kinder die elterliche Sorge hat, hat nur ein unregelmässiges Einkommen. Ob sie die Mindestgrenze für den Anspruch auf Familienzulagen erreicht (aktuell 7560 Franken pro Jahr respektive 630 pro Monat), ist von Jahr zu Jahr unsicher.
Ungeeignet für moderne Familien
Kurzzeitverträge, mehrere Arbeitgeber, Kantonswechsel, komplexe Familienkonstellationen, neue Patchworkmodelle: zu viele Unwägbarkeiten für ein System, das auf stabile, traditionelle Familien- und Arbeitsverhältnisse ausgelegt ist. Was abweicht, muss gesondert abgeklärt werden.
Das kann dazu führen, dass Eltern monatelang auf ihre Kinderzulagen warten. Oder dass sie letztlich gar darauf verzichten – aus schierer Überforderung. Zahlen dazu, wie oft das passiert, gibt es nicht. Fakt ist aber: Genau diese Modelle ausserhalb der Norm gibt es immer häufiger.
Anwältin Sabine Steiger-Sackmann sagt: «Die Erfahrung zeigt, dass in solchen Situationen gerade Familien in schwierigen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen weder Zeit noch Energie noch Wissen haben, um ihre Rechte einzufordern.» Somit würden ausgerechnet jene Gefahr laufen, leer auszugehen, die die nach dem Giesskannenprinzip ausgerichteten Familienzulagen am nötigsten hätten.
278 Millionen Franken Regulierungskosten pro Jahr
Wenig überraschend: Die Bürokratie im Konstrukt der Familienzulagen raubt nicht nur den Betroffenen den Schlaf – sie geht auch tüchtig ins Geld. Laut einem Forschungsbericht des Bundesamts für Sozialversicherungen von 2017 kostet es 278 Millionen Franken pro Jahr, das komplizierte Räderwerk überhaupt am Laufen zu halten.
Damit betragen die sogenannten Regulierungskosten rund 5 Prozent der gesamten Beitragssumme – pro 100 Franken Familienzulage entstehen also Kosten von 5 Franken. Laut der Studie ist der Anteil des administrativen Aufwands fast viermal so hoch wie bei AHV, Invalidenversicherung und Erwerbsersatzordnung.
Eine grosse Analyse legt grosse Mängel offen
Soll man das einfach so stehenlassen? Nein, findet ein Insider. Marc Stampfli, langjähriger Leiter des Bereichs Familienfragen beim Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV), hatte Tag für Tag mit der komplexen Materie zu tun und konnte manchmal nur noch den Kopf schütteln.
Als Ergebnis dieser Erfahrungen hat er kürzlich im Auftrag des Bundesamts einen Analysebericht vorgelegt, der die strukturellen Mängel offenlegt. Wobei Stampfli selbst relativiert: «Es sind Schwachpunkte in einem System, das heute für die Masse eigentlich funktioniert.» Aber es sei zu kompliziert und zu teuer, dazu in etlichen Punkten ungerecht. Kurz: «nicht mehr zeitgemäss».
Familienzulagen sind nicht ans Kind geknüpft
Besonders kritisch beurteilt Stampfli, dass die Familienzulage an den Erwerbsstatus der Eltern geknüpft ist – und nicht ans Kind. So werde das politisch breit abgestützte Ziel «Ein Kind, eine Zulage» nicht voll durchgesetzt.
Anspruchslücken könnten sich besonders bei Eltern in prekären Erwerbssituationen ergeben, etwa bei Temporärarbeit, Arbeit auf Abruf oder Scheinselbständigkeit. Auch den überladenen Abwicklungsapparat mit Hunderten von Kassen sieht Stampfli als «direkte Folge» der Koppelung an den Erwerb.
Föderalismus fördert Ungleichbehandlung
Zweiter Kritikpunkt: die geteilte Zuständigkeit zwischen Bund und Kantonen. Die Kantone können die Zulagen in Eigenregie erhöhen und zusätzliche Leistungen ausschütten.
Das führt zu erheblichem Gefälle: Der Bund gibt eine Mindestzulage von 215 Franken pro Kind und Monat vor, von da an gehts hinauf auf 330 Franken in Zug und gar auf 435 ab dem dritten Kind im Wallis. So bewirke der Föderalismus Ungleichbehandlungen, die kaum zu rechtfertigen seien, so Stampfli.
Bauernfamilien werden bevorzugt
Gar als «Anachronismus» bezeichnet Stampfli die Privilegien für Bäuerinnen und Bauern. Denn als gäbe es nicht bereits genügend Abgrenzungsprobleme, existiert bis heute ein separates Zulagengesetz für die Landwirtschaft. Dank ihm müssen Bauernfamilien – anders als alle anderen Selbständigerwerbenden – die Mittel für ihre Familienzulagen nicht selbst erbringen; finanziert werden sie von der öffentlichen Hand.
Eine ungerechte Sonderbehandlung, findet Studienverfasser Marc Stampfli. Er bemängelt ausserdem, dass wichtige Bestimmungen in dieser historisch gewachsenen Sonderregelung nicht mehr den realen Begebenheiten entsprechen. So würden die Bauern ihr Einkommen längst nicht mehr ausschliesslich durch landwirtschaftliche Tätigkeit erzielen. «Das führt zu erheblichem und letztlich unnötigem Abklärungsaufwand bei den Familienausgleichskassen.»
Pikant: Die Frage, warum die Landwirtschaft eigentlich bevorzugt behandelt werden soll, stellte schon 2019 die Eidgenössische Finanzkontrolle (EFK). Und gab die Antwort in einem Bericht gleich selbst: «Die bestehenden Ungleichheiten können materiell nicht mehr überzeugend begründet werden.» Die EFK empfahl eine Systemanpassung. Passiert ist: nichts.