Carla Del Ponte, Jägerin der Kriegsverbrecher, zieht eine erschütternde Lebensbilanz
«Ich habe nichts erreicht»

Sie «kann und will nicht mehr»: Carla Del Ponte (70) «hat nichts erreicht» und verabschiedet sich mit einer düsteren Sicht auf die Welt und ihr Leben vom internationalen Parkett. BLICK traf die Tessiner Kriegsverbrecherjägerin zum grossen Gespräch. Sie gab sich persönlich wie nie.
Publiziert: 27.09.2017 um 09:40 Uhr
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Aktualisiert: 07.10.2018 um 11:23 Uhr
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Stets die Anklägerin: Carla Del Ponte geht mit einer mitleidlosen Welt hart ins Gericht – aber auch mit sich selbst.
Foto: Philippe Rossier
Cinzia Venafro (Interview) und Philippe Rossier (Fotos)

Man nannte sie «Carlita la pesta»: Carla, die Pest. Und man meinte es als Lob – für ihre kompromisslose Jagd auf Mafiosi und Kriegsverbrecher. Will Kettenraucherin Carla Del Ponte (70) vor dem Interview mit BLICK noch eine Zigarette? «Ich kann es selbst noch nicht fassen, aber ich habe seit drei Monaten keine mehr angerührt», sagt die Tessinerin. Genau so lange ist die für ihre Wut-Tiraden berühmte Tessinerin geistig in Pension.

BLICK: Wie wütend sind Sie heute
Carla Del Ponte: Ich bin nicht mehr wütend. Seitdem ich mich entschied, als Uno-Sonderberichterstatterin für Syrien aufzuhören – endlich, ich hatte monatelang mit mir gerungen –, ist diese schlimme Wut in mir verflogen. Es freut mich sehr, dass wir heute beweisen können, dass die syrische Regierung hinter der Gasattacke auf Khan Shaykhun vom 4. April 2017 steckt. Beim Gedanken an diesen Anschlag steigt die Wut aber gerade wieder hoch: Assad hat so viele Kinder und Frauen getötet!

Haben Sie Hoffnung, dass diese Beweise je vor einem Gericht verwendet werden?
Die Hoffnung bleibt. Die Uno-Kommission ist eine Alibiübung, solange diese Verbrechen ungeahndet bleiben. Wir kommen nicht einmal annähernd an den Punkt, an dem man Gerechtigkeit für die Opfer erlangt. Darum habe ich gesagt: Me ne vado. Ich gehe. Derzeit gibt es keinen politischen Willen für eine Strafverfolgung dieser Kriegsverbrecher. Kein Licht der Hoffnung. Es ist stockfinster.

Was ist seit Ihrem Rücktritt vor einem Monat geschehen?
Nichts. Die Mitglieder des UN-Sicherheitsrates schweigen. Die anderen Kommissare haben mir nicht mal geschrieben. Ich nehme an, die sind unzufrieden mit mir. Aber das macht nichts.

Die Chefin des Uno-Organs für Beweismittel syrischer Kriegsverbrechen, Catherine Marchi-Uhel, versteht Ihre Frustration. 
Das freut mich, bringt aber niemandem etwas. Ich hoffe, dass ihr etwas gelingt, was ich nicht schaffen konnte. Dass sie diese Kriegsverbrecher erfolgreich jagt.

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1994 – Völkermord in Ruanda: Innert etwa 100 Tagen töteten Angehörige der Hutu-Mehrheit etwa 75 Prozent der in Ruanda lebenden Tutsi-Minderheit. Schätzungen zufolge kamen zwischen 800 000 und einer Million Menschen zu Tode. Als Todesschwadronen metzelten sie Zivilisten mit Macheten und Säbeln nieder. Die Weltgemeinschaft sah weg, 5500 Uno-Blauhelme waren im Land, konnten aber nichts tun.
Foto: Reuters/Jeremiah Kamau

Es fällt auf, dass viele Frauen in der internationalen Justiz Spitzenposten innehaben. Sind Frauen besser im Jagen von Kriegsverbrechern? 
Das glaube ich nicht. In den Anfangsjahren der internationalen Justiz setzte man Frauen an die Spitze, weil man nicht an den Erfolg dieser Gerichte glaubte. Die Männer dachten, dass diese Institutionen sowieso nichts bringen, also konnte man sie uns Frauen überlassen.

Carla del Ponte im Interview mit BLICK
Foto: Philippe Rossier

Wann in Ihrem Berufsleben benutzten Sie die Weiblichkeit als Werkzeug?
Bei den Mafiosi half es mir, eine Frau zu sein. Ich erinnere mich an einen im Tessin: Da hiess es, ich müsse ihn auf dem Posten vernehmen, alles andere sei zu gefährlich. Da sass ich also diesem Mann gegenüber, der nett und flirtend auf mich einredete: «Ach, Dottoressa Del Ponte, so eine Ehre, Sie kennen zu lernen.» Plötzlich betrat ein Polizist den Raum, ging zum Angeschuldigten, öffnete eine Schublade und nahm eine Pistole heraus! Mir lief es kalt den Rücken runter. Und der Mafioso sagte süffisant: «Dottoressa Del Ponte, wie schade, hätte ich von dieser Schublade gewusst, wären wir zwei in diesem Moment bereits gemeinsam auf der Reise nach Italien.» (Lacht)

Aber damals lachten Sie wohl nicht. 
Ich war fuchsteufelswild auf die Polizisten, diese Pistole war geladen! Aber gut. Zu Ihrer Frage zurück: Um die Leute dazu zu bringen, mit der Wahrheit herauszurücken, holte ich meine weibliche, liebliche Stimme (spricht ganz sanft) hervor. Besonders als Strafverfolgerin in der Schweiz entlockte ich damit einigen Tätern erfolgreich Geständnisse. 

Und auf dem internationalen Parkett? Sie klagten Männer aus patriarchalenGesellschaften an. Machte es diesen Machos etwas aus, dass ihnen ausgerechnet von einer Frau der Prozess gemacht wurde?
Nein, das glaube ich nicht. Und mit der Zeit wussten diese Männer auch, dass ich nicht zu knacken bin.

Erlebten Sie Sexismus?
Eben nicht. Ich konnte die Früchte meiner Vorgängerinnen ernten, die gegen Sexismus und dieses furchtbare Frauenbild kämpften. Als ich ins Berufsleben einstieg, achtete man schon penibel darauf, ja nicht sexistisch zu sein.

Sind Sie denn Feministin?
Nein – oder doch. Ich war es wohl immer, ohne ein Bewusstsein dafür entwickelt zu haben.

Sie arbeiteten eng mit der ehemaligen US-Aussenministerin Condoleezza Rice zusammen. Ihnen und Rice wäre es «niemals in den Sinn gekommen, uns zur Begrüssung oder zum Abschied abzuküssen», enervierten Sie sich einmal. Begegnen sich Frauen in dieser Liga anders als Männer?
Ja. Von den Männern kriegen sie, wenn nicht schon beim ersten Händereichen, aber spätestens bei der Verabschiedung, einen Kuss. Das hat mich immer geärgert! Ich kriege gerne einen Kuss, aber dann müssen wir schon ein bisschen Freunde sein.

Eine Vorgängerin von Rice, Madeleine Albrightbrachten Sie einmal ziemlich aus dem Konzept.
Das war lustig. Wir trafen uns in London. Die Queen hat da eine Villa in der Nähe des Flughafens. Albright kam mit ihrer 20-köpfigen Delegation, ich mit drei Leuten. Wir verbannten dann alle aus dem Raum, so konnten wir beide frei sprechen. Nach kurzer Zeit kam ein Amerikaner ganz nervös herein: Washington rufe. Albright verschwand hektisch und vergass ihre Notizen – über mich. Alles stand da drin! Sogar Dinge über Carla Del Ponte, die ich vergessen hatte.

Die Amerikaner wissen also wirklich alles über uns.
Alles, alles, alles. Auf diesen Kärtchen stand auch, dass man mit mir nicht aggressiv sein dürfe. Wenige Monate nach dem Treffen drückte ich Madeleine die Kärtchen in die Hand (lacht laut). Ihren Gesichtsausdruck hätten Sie sehen müssen!

Zurück zur traurigen Gegenwart: In Syrien gebe es nur noch das Böse, haben sie kürzlich gesagt.
Als wir 2011 mit den Ermittlungen anfingen, waren die Vertreter der Regierung die Bösen. Mittlerweile haben in diesem Krieg alle Kriegsverbrechen begangen. Die Terroristen, der IS, die Opposition und die Regierung – alle, die kämpfen, sind böse.

Hätten die USA und die Westmächte militärisch früher gegen den IS einschreiten sollen?
Militärisch oder nicht: Eingreifen hätten sie müssen! Erinnern Sie sich an die Ukraine? Da packten alle Aussenminister ihre Zahnbürsten ein und flogen nach Kiew. Ganz anders ins Syrien: Niemand ging nach Damaskus und versuchte, mit Assad zu sprechen. Stattdessen drohten die Amerikaner mit militärischer Intervention. Doch wenn Sie schon drohen, müssen Sie konsequent bleiben.

Sie kennen die Details des Völkermords in Ruanda oder der ethnischen Säuberung in Bosnien. Von den Gräultaten des IS wirken Sie trotzdem überwältigt. Wurde hier eine neue Dimension der Gewalt erreicht?
Absolut. Der IS foltert und hält die Person am Leben, um weiter zu foltern. Und ich hatte zuvor noch nie gesehen, dass Kinder gefoltert werden.

Das haben Sie gesehen?
Diese Täter filmen ihr Foltern. Einem Zwölfjährigen wird in einem dieser Videos am Ende der Kopf abgeschlagen. Die Augen dieses Buben werde ich nie vergessen können. Genauso wenig wie den Zweijährigen, den einzigen Überlebenden einer Familie: Ich wollte ihn retten, suchte Adoptiveltern in der Schweiz. Bis wir die Papiere hatten und ich ihn abholen wollte, war er weg. Glauben Sie mir: So etwas wie jetzt vom IS habe ich noch nie gesehen, nicht in Jugoslawien, nicht in Ruanda.

Was ist so anders?
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Im Jugoslawien-Krieg liess man Zivilisten ihre Gräber ausheben, stellte sie in einer Reihe davor auf und exekutierte einen nach dem anderen. Bei einer solchen Erschiessung hatte ein Vater seinen zweijährigen Sohn an der Hand. Niemand schoss auf das Kind. Mit 17 Jahren war dieser Bub dann mein Zeuge vor Gericht. Doch der IS würde das gleiche Kind heute foltern, dies filmen – und das Kind irgendwann bestialisch töten.

Carla del Ponte im Interview mit BLICK
Foto: Philippe Rossier

Sie sind zweifache Grossmutter. Kann es sein, dass Nonna Carla heute sensibler ist?
Ich kann schon noch abstrahieren. Das ist der Schutzmechanismus, der mich gesund hält.

Ihr Sohn wuchs bei den Grosseltern auf. Holen Sie heute als Nonna nach, was Sie als Mutter verpassten?
(Überlegt) Nein. Aber mein Sohn ist schon sehr überrascht, wie ich mit seinen Kindern spiele und ihnen vorlese. Das machte ich mit ihm nie. Ich hatte keine Zeit für ihn.

Die Familie ist ein grosses Opfer für die Karriere. Was trieb Sie an?
Ich kämpfte, weil ich einen Sinn hinter meinem Schaffen sah. Es klingt banal, aber im Leben müssen Sie ein Ziel haben, Sie müssen sich darüber klar werden, was Sie erreichen wollen. Ich wusste, dass ich die Welt verbessern will. Darum habe ich überhaupt mit dem Strafrecht angefangen.

Sie wuchsen katholisch auf. Glauben Sie heute noch an Gott?
Ja, sehr wahrscheinlich schon. Aber das ist eine schwierige Frage.

Sprechen Sie mit einer höheren Macht?
Nein, ich spreche mit mir selber. Das ist genug. Natürlich ich bin noch immer katholisch, ich besuchte schliesslich einst ein katholisches Mädcheninternat.

Wenn man so viel Gewalt dokumentiert wie Sie, ist es nachvollziehbar, wenn man darob den Glauben an Gott verliert.
Ich habe heute weniger Hoffnung für die Welt als je zuvor. Es steht so schlecht um die Menschenrechte, wie ich es mir niemals vorgestellt hätte. Darum war es höchste Zeit, dass ich aufhöre. Ich muss mir eingestehen: Ich habe nichts erreicht. Viele, die ich anklagte, wurden nicht verurteilt. Damit muss ich leben. Ich erreichte zwar die Verurteilung einzelner Kriegsverbrecher, konnte aber nicht verhindern, dass sich dieses Grauen wiederholt. Und verschlimmert. Jetzt kann und will ich nicht mehr.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass Carla Del Ponte nur noch Golf und Bridge spielt.
Vergessen Sie meine Nonna-Pflichten nicht. Aber Sie haben recht: Ich muss ein Buch schreiben. Ich muss das alles endlich zu Papier bringen, um meinen Kopf frei zu kriegen. Sonst erdrückt es mich.

Ihr Bruder ist Arzt und geht für das IKRK in Krisengebiete. Er nahm psychologische Hilfe in Anspruch, um das Gesehene zu verarbeiten. Haben Sie sich nie auf die Couch gelegt?
No, no, no, ich brauchte das sicher nicht! Wir hatten in Den Haag einen Psychologen. Aber Menschen am Internationalen Strafgerichtshof brauchen keinen Psychologen. Sonst sind sie am falschen Ort.

Kann man das so hart sagen? Schwäche ist ...
Doch, doch, doch! Es gibt einen Grundsatz, der einen vor viel Unheil bewahrt: Wenn du wegen deiner Arbeit nicht schlafen kannst, musst du gehen. Jetzt bin ich 70 und will die schönen Dinge des Lebens geniessen. Gestern habe ich im Golf gewonnen, oh wie habe ich mich gefreut. Es gab sogar einen Preis und Applaus! Wenigstens beim Golfen werde ich beklatscht.

Ein Leben auf Verbrecherjagd

Carla Del Ponte (70) wuchs mit drei Brüdern im Tessiner Hotel ihrer Eltern auf. Sie verschrieb sich in den 80er-Jahren der Mafiajagd – unter anderem an der Seite des später ermordeten italienischen Richters Giovanni Falcone (†53). Von 1994 bis 1998 war sie Bundesanwältin, von 1999 bis 2007 Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag für Kriegsverbrechen in Ex-Jugoslawien sowie den Völkermord in Ruanda. Von 2008 bis 2011 war sie Botschafterin der Schweiz in Argentinien, seit 2011 Uno-Sonderberichterstatterin für Kriegsverbrechen in Syrien. Ponte ist zweimal geschieden und hat einen Sohn.

Carla Del Ponte (70) wuchs mit drei Brüdern im Tessiner Hotel ihrer Eltern auf. Sie verschrieb sich in den 80er-Jahren der Mafiajagd – unter anderem an der Seite des später ermordeten italienischen Richters Giovanni Falcone (†53). Von 1994 bis 1998 war sie Bundesanwältin, von 1999 bis 2007 Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag für Kriegsverbrechen in Ex-Jugoslawien sowie den Völkermord in Ruanda. Von 2008 bis 2011 war sie Botschafterin der Schweiz in Argentinien, seit 2011 Uno-Sonderberichterstatterin für Kriegsverbrechen in Syrien. Ponte ist zweimal geschieden und hat einen Sohn.

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