Sie hat sich Luft gemacht: Carla Del Ponte (71), bekannt als Carlita la peste, «musste endlich alles rauslassen, sonst hätte es mich erdrückt», sagte die Tessinerin, als BLICK sie gestern Nachmittag am Rande ihrer Buchpräsentation zu «Im Namen der Opfer» in einem Zürcher Hotel zum Interview trifft. Beim letzten Gespräch mit BLICK vergangenen Herbst war die einstige Kettenraucherin Del Ponte stolz, gerade ihr ungesundes Laster nach 40 Jahren hinter sich gelassen zu haben.
BLICK: Carla Del Ponte, sind Sie Nichtraucherin geblieben? Oder war der Ärger beim Buchschreiben so gross, dass Sie wieder zur Zigarette griffen?
Carla Del Ponte: Ich habe seit genau einem Jahr keine Zigarette mehr angerührt. Nicht einmal die Arbeit an diesem Buch hat mich wieder anfangen lassen. Obwohl es mich sehr aufgewühlt hat.
Sie widmen «Im Namen der Opfer: Das Versagen der UN und der internationalen Politik in Syrien» Ihrer Mutter Angela, weil Sie sie «zu leben gelehrt hat».
Mein Vater wollte nie, dass ich studiere – ich hätte heiraten und somit versorgt sein sollen. Nur dank meiner Mutter – sie war sehr tough – habe ich verinnerlicht: Mach immer weiter Carla, verfolge dein Ziel, egal, was alle sagen. Mein Sohn Mario musste hinten anstehen, darum widme ich das Buch auch ihm. Wissen Sie, eine verheiratete Mutter muss sich entscheiden: Entweder ist man für die Familie da oder für die Arbeit. Und bei mir hatte die Arbeit Priorität. Mario war einverstanden damit.
Weil er wusste, dass Ihr Wirken einen Sinn hat?
Mario realisierte schnell, dass Mamis Wirken einen höheren Zweck erfüllen könnte. Dass ich für Gerechtigkeit kämpfte. Aber im Nachhinein muss ich auch eingestehen, dass er durch meine Abwesenheit auch einfach sehr viele Freiheiten hatte. Als 18-Jähriger ist das doch schön. Ich hatte Bodyguards und habe ihm meinen schönen Audi überlassen – ich durfte damit ja nicht fahren. In dem Sinne lebte er die Freiheit, die ich wegen meiner Arbeit nicht hatte.
Sie kämpften mit Ihrer Arbeit immer für Gerechtigkeit, zuletzt als Uno-Sonderberichterstatterin für Menschenrechtsverletzungen in Syrien. Ist das Ihr Lebensantrieb?
Ma no! Das dachte ich mein Leben lang, aber heute habe ich resigniert. Ich glaubte noch an Gerechtigkeit, als ich zusagte, Sonderberichterstatterin zu werden. Hätte ich damals schon gewusst, wie lächerlich und nutzlos die Arbeit dieser Kommission sein würde, hätte ich Nein gesagt. Wir haben überhaupt nichts gemacht für Gerechtigkeit. Wir haben eine Liste von Verbrechen aufgezeichnet, Folterungen und Tötungen von Kindern, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die jeglicher Vorstellung entbehren. Dann übergaben wir es dem UN-Sicherheitsrat, und ich war überzeugt: Jetzt passiert etwas! Gegen die Jesiden beispielsweise wurde ein Völkermord begangen. Völkermord! Der IS hat die Frauen und Kinder auf diesen Berg im Irak getrieben und dann als Sklaven verkauft. Der Sicherheitsrat unternahm nichts. Und so haben wir sechs Jahre lang Listen erstellt, ohne jegliche Folgen. Das war eine Vergeudung! Die Uno-Welt ist unnütz und unnötig. Die Kommission kostet viel und bringt nichts. Sie ist eine Alibi-Übung.
Weil sie keine Beweise haben.
Wir haben Namen, wir wissen, wer genau einen 12-jährigen Buben gefoltert und getötet hat. Ich sah den Gräuel auf einem Video, seine Augen werden mich bis zu meinem Tod verfolgen. Wir haben sogar mit seiner Mutter gesprochen. Aber solange wir kein Gericht haben, können wir nichts machen. Alles bleibt ungesühnt. Weil niemand mehr ermittelt. Listen mit Verdächtigen bringen niente, ohne Ermittlung.
In Syrien seien alle böse geworden, sagten Sie. Ist das die neue Dimension des modernen Krieges?
Ja, in Syrien haben alle Kriegsverbrechen begangen. Es war ein «Trend» geworden, Mediziner unter Beschuss zu nehmen. Oder Bäckereien zu bombardieren, extra früh am Morgen, wenn es nach frischem Brot riecht. Wir konnten 25 Anschläge ermitteln, bei denen in Syrien chemische Waffen eingesetzt wurden. 20-mal war es das Regime, fünf schreiben wir den Rebellen zu. Aber jetzt ermittelt niemand mehr.
Wut gegen einen Täter bringe einen in der Untersuchung nichts, schreiben Sie im Buch. Aber Wut ist doch auch Ihr Antrieb?
Sicher nicht, auch nicht Rache. Es sind die Opfer. Wenn ich in meinem Leben mal den Sinn meines Tuns anzweifelte, erhielt ich die Motivation, weiterzumachen von den Opfern. Sie gaben mir Kraft. Besonders im Balkankrieg. Aber in Syrien existiert die Welt der Strafverfolgung nicht. Wir haben zwar Opfer einvernommen, aber sie haben nicht nach Justiz und Gerechtigkeit verlangt. Sie verlangen nur, am Leben zu bleiben.
US-Präsident Trump hat Ziele in Syrien bombardiert. Das als Vergeltung für Giftgas-Angriffe. Was bewirken Trumps Bomben?
Überhaupt nichts! Was sind denn das für Angriffe, wenn man zuvor genau ankündigt, wie und wo sie einschlagen werden? Trump hat ein paar Gebäude zerstört, das ist Symbolpolitik, sie bringt null Gerechtigkeit für die Opfer.
Sie hätten gehorchen müssen als Uno-Sonderberichterstatterin, sagten Sie. Das kann eine Carla Del Ponte wohl schlecht.
Nein, doch! Obwohl? Hören Sie, ich war zuvor Chefin über 600 Juristen aus der ganzen Welt. Plötzlich war ich Mitglied einer Kommission, und der Präsident hatte null Erfahrung als Ermittler. Ich war die Einzige. Meine Kollegen haben nur neutral dokumentiert, wenn ein Menschenrecht verletzt wurde. Ich wollte aber erfahren, wer geschossen hat! Und das hat für ordentlich Streit gesorgt. Oh, was haben wir gestritten.
Zum Beispiel?
Die Kommission hat einen sehr schwerwiegenden Fehler begangen. Die syrische Regierung hat mich nach Damaskus eingeladen. Aber der Präsident hat mich nicht gehen lassen. Warum?
Weil Russland es nicht wollte?
Ma no, Russland hat für einmal nichts damit zu tun. Es ging einzig um Eitelkeit. Er hätte es nicht ertragen, wenn ich alleine ohne ihn in Damaskus etwas erreicht hätte. Als ich meinen Rücktritt aus der Kommission bekannt gab und die ganze Weltpresse es aufnahm, soll der Präsident sich wahnsinnig aufgeregt haben: «Wieso interessieren sich die alle für die Del Ponte!?» (lacht)
Das Interesse befeuern Sie ja auch selbst. Aber jetzt sind Sie pensioniert. Ist wirklich Schluss?
Wenn heute das Telefon kommt, dass es ein Sondertribunal für Syrien gibt, mache ich weiter. Aber es gibt derzeit keinen politischen Willen dazu, Russland verhindert ja alles mit dem Veto. Und so bin ich jetzt pensioniert und schade niemandem mehr. Aber es gibt auch etwas Schönes daran: Endlich keine Bodyguards mehr!
Man nannte Sie zur Ihrer Zeit als Staatsanwältin Carlita la Peste. Das schmeichelte Ihnen sicher.
Je schlimmer der Spitzname, desto besser. Es bedeutete ja, dass ich gute Arbeit leistete.
Eine Auszeichnung ohne Beschimpfung ist der Hessische Friedenspreis, der Ihnen im Februar verliehen wurde.
Oh, was habe ich mich darüber gefreut. Eine grosse Genugtuung für meine Arbeit.
Fühlen Sie sich eigentlich missverstanden in der Schweiz? Es scheint, wie wenn Ihnen im Ausland viel mehr Respekt entgegengebracht wird.
Nein, nein. Und hier gibt es ja auch keinen solchen Preis.
Der Prophet im eigenen Land wird nie richtig gehört.
Sagt man so, ja. Aber ich bin ja auch sehr viel ruhiger geworden.
Im Gegenteil. Jetzt haben Sie mit dem Buch ein lautes Altersvermächtnis veröffentlicht.
Ich bin erst 71, das ist ein schlechter Titel! Ich habe noch einiges vor. Ich muss zum Beispiel endlich mein Golf-Handicap unter 20 kriegen. Wegen dieses Buchs, porca miseria, – verflucht noch mal, habe ich das Golfen vernachlässigt.
Gegolft haben Sie auch in Argentinien, wo sie von 2008 bis 2011 Botschafterin waren. Im Buch beschreiben Sie, dass alt Bundesrat Christoph Blocher Ihnen den Posten verschafft hat, indem er einen Kuhhandel mit Micheline Calmy-Rey einging.
Blocher hat es sogar zugegeben. Aber was der damalige Justizminister der damaligen EDA-Vorsteherin als Faustpfand für meinen Botschafterjob gegeben hat, habe ich bis heute nicht herausgefunden. Alt Bundesrätin Ruth Dreyfuss hatte mir Jahre zuvor per Faustschlag versprochen, dass ich einst einen Botschafterposten erhalte. Aber als es dann darum ging, sagte Blocher: Oh, die Calmy-Rey wird das nicht wollen. Aber sie musste dann irgendetwas haben von Blocher, und so ging er einen Tauschhandel ein: Ich geb dir, was du willst, aber du gibst der Del Ponte den Botschafterposten in Buenos Aires.
Calmy-Reys Absicht sei leicht zu erkennen gewesen, schreiben Sie im Buch: Die Del Ponte muss «so weit wie möglich weg»!
Ich wäre ja lieber in Europa geblieben. Aber ich stand der Calmy-Rey halt in der Sonne. Denken Sie mal: Als ich Chefanklägerin in Den Haag war, wollte ich den französischen Präsidenten Jacques Chirac treffen: Nach einer Woche sass ich bei ihm am Tisch. Calmy-Rey? Drei Monate! Ich habe sie dann mal darauf angesprochen, und sie lachte nur. Aber ja, sie hatte mich ja auch mundtot gemacht.
Inwiefern?
Weil ich Botschafterin war, konnte Calmy-Rey mir verbieten, mein eigenes Buch «La Caccia» in Mailand vorzustellen. Da hat mich ihr Sekretär in Argentinien angerufen und gesagt: Sie dürfen nicht gehen. Da habe ich reklamiert: Come???? (wird laut) Aber ich durfte halt nicht.
Aber eine Del Ponte zur Diplomatin zu machen – Sie, die nun wirklich alles andere als diplomatisch sind – war doch auch eine Vergeudung von Steuergeldern.
Che Vergeudung von Steuergeldern?! Ich war 61 und musste nicht drei Jahre arbeiten bis zur Pensionierung. Zudem hatte ich es schon vor Den Haag mit den Behörden abgemacht. Und ich war eine sehr gute Botschafterin! Che Vergeudung!? Ich habe bewirkt, dass wir ein Rechtshilfeabkommen mit Argentinien abschliessen. Das hatten vor mir viele versucht, ich habe es in kurzer Zeit erreicht.
Carla Del Ponte (70) wuchs mit drei Brüdern im Tessiner Hotel ihrer Eltern auf. Sie verschrieb sich in den 80er-Jahren der Mafiajagd – unter anderem an der Seite des später ermordeten italienischen Richters Giovanni Falcone (†53). Von 1994 bis 1998 war sie Bundesanwältin, von 1999 bis 2007 Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag für Kriegsverbrechen in Ex-Jugoslawien sowie den Völkermord in Ruanda. Von 2008 bis 2011 war sie Botschafterin der Schweiz in Argentinien, seit 2011 Uno-Sonderberichterstatterin für Kriegsverbrechen in Syrien. Ponte ist zweimal geschieden und hat einen Sohn.
Carla Del Ponte (70) wuchs mit drei Brüdern im Tessiner Hotel ihrer Eltern auf. Sie verschrieb sich in den 80er-Jahren der Mafiajagd – unter anderem an der Seite des später ermordeten italienischen Richters Giovanni Falcone (†53). Von 1994 bis 1998 war sie Bundesanwältin, von 1999 bis 2007 Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag für Kriegsverbrechen in Ex-Jugoslawien sowie den Völkermord in Ruanda. Von 2008 bis 2011 war sie Botschafterin der Schweiz in Argentinien, seit 2011 Uno-Sonderberichterstatterin für Kriegsverbrechen in Syrien. Ponte ist zweimal geschieden und hat einen Sohn.