Bundesratskandidat Markus Ritter zu Trump, Putin und der Schweizer Wirtschaft
«Bei der Zuwanderung haben wir eine Kapazitätsgrenze erreicht»

Markus Ritter könnte als Bundesrat nicht nur die Armee aufräumen, sondern auch Wirtschaftsminister werden. Was er mit den Bauern tun würde.
Publiziert: 03.02.2025 um 19:07 Uhr
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Aktualisiert: 04.02.2025 um 17:14 Uhr
Markus Ritter im exklusiven Interview als Bundesratskandidat der Mitte-Partei.
Foto: Philippe Rossier

Auf einen Blick

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Andreas Valda
Handelszeitung

Was halten Sie von Donald Trump? 

Markus Ritter: Er ist ein Phänomen. Fast unglaublich, dass er trotz allem – Prozesse, Skandale, Unwahrheiten – wiedergewählt worden ist. Sein Politikstil macht mir Sorgen, auch bezüglich Europa. Einen solchen habe ich noch nicht gesehen.

Sie machen sich auch Sorgen um die Schweiz? 

Etwas Sorge, ja. Trumps Methode ist, maximal Druck aufzubauen, wie man es jetzt – mit Panama, Grönland, Kanada oder Kolumbien – sieht, um am Ende ein aus seiner Sicht gutes Geschäft zu machen. Dass er diesen Druck so offen medial aufbaut, ist neu. Solch ein Druck verlangt von der Gegenseite ein entschlossenes Handeln. Europa muss seine Interessen durchsetzen können, sonst kommt unser Kontinent unter die Räder.

Was halten Sie von Wladimir Putin? 

Er versucht, sich ein Nachbarland einzuverleiben, wie man es aus dem Mittelalter und vom Anfang des 20. Jahrhunderts kennt. Das verurteile ich.

Was halten Sie von ehemaligen Nationalräten, die Putin besuchen und sich verbal anbiedern? 

Das finde ich problematisch. Putin ist der Aggressor. Er hat eine Kriegsmaschine in Gang gesetzt. Position für ihn zu beziehen, ist in dieser Rolle verfehlt. Was die Schweiz tun kann, ist, offiziell zu vermitteln und zu versuchen, Frieden zu stiften.

Die erwähnten Kreise sagen, der Westen sei mitschuldig am Einmarsch. Putin sei provoziert worden. Teilen Sie diese Sicht? 

Nein. Das ist Putins Schutzbehauptung. Die Nato hat solide Grundsätze. Sie ist ein Verteidigungsbündnis und keine Angriffsarmee.

Könnte die Schweiz in den nächsten 10 bis 15 Jahren konventionell angegriffen werden? 

Das ist derzeit eher unwahrscheinlich. Wir sind umgeben von neutralen beziehungsweise von Nato-Staaten. Dieser erweiterte Schutz um die Schweiz herum ist sehr stark. Eher denkbar wäre, dass uns ein feindlicher Staat aus der Ferne mit Raketen oder Drohnen bedroht, so wie Iran das Israel gegenüber macht. Für eine solche Gefahr braucht es eine wirksame Boden-Luft-Abwehr. Im Übrigen wird die Schweiz bereits heute fast täglich im Cyberbereich angegriffen. Hier müssen wir prioritär in Gegenmittel investieren.

Soll sich die Schweiz der Nato annähern, wie es Österreich vormacht und Viola Amherd angestossen hat? 

Nein, ich sehe es weniger offensiv. Es braucht den Austausch, aber mehr nicht.

Gemeinsame Übungen mit der Nato? 

Da bin ich zurückhaltend. Gemeinsame Waffensysteme oder Kampfjets zu testen, finde ich gut. Das läuft ja heute schon und macht Sinn.

Sind Sie für die rasche Aufrüstung der Armee bis 2030? 

Ich habe dem Anliegen zugestimmt in der Budgetdebatte. Voraussetzung ist, dass die Armee glaubwürdige Projekte und Beschaffungsprozesse hat.

Diese Glaubwürdigkeit fehlt ihr. 

Ich schaue nicht in den Rückspiegel und kenne die Probleme nicht im Detail – ausser das, was ich in den Berichten der Geschäftsprüfungskommission und der Finanzdelegation darüber gelesen habe. Sollte ich in den Bundesrat gewählt werden und das VBS übernehmen, wäre die Glaubwürdigkeit der Rüstungsprojekte einer meiner Schwerpunkte.

Nato-Länder haben sich Rüstungslieferungen aus der Schweiz gewünscht, um dafür ihre Waffen an die Ukraine zu liefern – der sogenannte Ringtausch. Der Bundesrat hat dies blockiert, auch das Parlament hat es verhindert. Hätte die Schweiz die nicht gebrauchten Leopard-Panzer an Deutschland liefern können? 

Direkte und indirekte Waffenlieferungen an Kriegsparteien lehne ich ab, weil man damit Partei ergreift. Das gilt auch für die Leopard-Panzer. Aber sehr unglücklich finde ich, dass wir anfangs die Rüstungsweitergabe für Exporte verhindert haben, die vor dem Krieg erfolgt waren. Ländern wie Dänemark, die vor zehn Jahren Rüstung eingekauft haben, sollte man nicht verbieten, sie weiterzugeben. Dieses Verbot hat unserer Rüstungsindustrie sehr geschadet.

Die Schweiz als unglaubwürdiger Partner? 

Das sehen manche Partner leider so. Sie werden sich nun zweimal überlegen, ob sie Rüstungsgüter in der Schweiz beschaffen wollen.

Sie wollen die hiesige Rüstungsindustrie stärken? 

Wenn wir in Sicherheit leben wollen, müssen wir weiterhin die Kapazität haben, gewisse Rüstungsgüter in der Schweiz herzustellen: Das hilft uns, unabhängig zu sein. Doch unsere Rüstungsanbieter können ihre Entwicklungskosten mit inländischen Aufträgen allein nicht decken. Sie überleben nur dank Exporten. Diesen Export dürfen wir mit restriktiven Gesetzen nicht verhindern. Und dieses Know-how zu bewahren, ist Teil der Verteidigungsfähigkeit der Schweiz.

Sie fokussieren öffentlich derzeit stark aufs Verteidigungsministerium (VBS). Doch sollten Sie einmal im Bundesrat sein, könnten Sie genauso gut Wirtschafts- oder Aussenminister werden, wenn Ignazio Cassis oder Guy Parmelin zurücktreten würden. 

Ich habe in meinem Leben noch nie ein Haus verlassen, bevor ich es nicht aufgeräumt habe – weder meinen Bauernhof noch den Stadtrat in Altstätten oder das Verbandspräsidium. Sollte ich gewählt werden, gälte dies auch für das VBS.

Sie sind nicht nur Bauernvertreter, sondern auch Mitglied der Wirtschaftskommission. Als solches müsste Sie das Wirtschaftsdepartement reizen. 

Ich habe mich im Parlament stark für unsere Wirtschaft eingesetzt. Tatsächlich habe ich auch nicht Agronomie studiert, sondern Wirtschaftsingenieur an der Fachhochschule St. Gallen. Dort war ich der einzige Bauer, und Volks- und Betriebswirtschaft waren sehr wichtig. Doch wie gesagt, das VBS steht im Vordergrund.

Laut Nationalrat Markus Ritter sind Kompromisse zentral für unseren Erfolg.
Foto: Philippe Rossier

Und dennoch interessiert das Land, wo Sie die wirtschaftlichen Prioritäten sehen. Woher kommt unser Wohlstand? 

Die Schweiz war 1860 ein mausarmes Land. Wir waren ein Auswanderungsland. Familien wurden dafür bezahlt, um zu emigrieren. Sie fragen, wie der Wohlstand möglich geworden ist. Ich sehe fünf Faktoren. Erstens: Glück und eine gute Aussenpolitik; wir wurden von beiden Weltkriegen verschont. Zweitens: ein liberales Arbeitsrecht. Wir schafften es, ergänzend zum inländischen Arbeitsmarkt gute Leute aus dem Ausland in die Schweiz zu holen. Die Geschichte der letzten 3000 Jahre zeigt, dass alle sehr erfolgreichen Länder Leute von aussen holten, darunter das alte Rom und Arabien. Sie merken, mich fasziniert Geschichte.

Die Einwanderung als Erfolgsfaktor? 

Ja, dank gezielter Einwanderung in wichtigen Bereichen. Wir brauchen die besten Köpfe der Welt, um uns ständig weiterzuentwickeln und an der Spitze der Innovation zu bleiben.

Was ist der dritte Faktor? 

Die politische Stabilität. Rechtssicherheit hat uns viel Prosperität gebracht. Etliche Länder Europas haben zurzeit keine politische Stabilität.

Deutschland, Frankreich, Grossbritannien? 

Die Länder kämpfen mit erheblichen Unsicherheiten. Besonders schwer wiegt, dass es für Europa grosse und wichtige Länder sind.

Der vierte Faktor? 

Die Nationalbank! Sie garantiert seit dem Zweiten Weltkrieg eine stabile Währung und den Erhalt der Kaufkraft. Alle sprechen vom Bundesrat, aber die Nationalbank (er zeigt mit dem Finger auf den Hauptsitz) ist für unseren Wohlstand mindestens so wichtig wie die Landesregierung. Sie schafft tiefe Zinsen, die der Wirtschaft helfen, zu investieren. Sie stimuliert fast Vollbeschäftigung. Davon konnte ich mich in den vergangenen 13 Jahren als Mitglied der Wirtschaftskommission überzeugen. Wichtig ist, dass die Politik der Nationalbank möglichst wenig dreinredet.

Ritter nennt fünf Faktoren, die zum Schweizer Wohlstand beitragen.
Foto: Philippe Rossier

Die Exportwirtschaft war mit dem Kurs der SNB nicht immer glücklich, weil die Exporte durch den starken Franken massiv litten. Auch jetzt wird der Franken laufend stärker. 

Das stimmt. Doch die Exportwirtschaft kann damit umgehen, solange die Franken-Stärke nicht zu schnell zunimmt. Sie schafft es, laufend produktiver zu werden und so den wechselkursbedingten Wettbewerbsverlust zu kompensieren. Es ist denkbar, dass der Franken weiter erstarken wird. Stichworte: die hohe Verschuldung im Ausland und das schwache Wachstum in Europa. Dank einer tiefen Inflation hierzulande nimmt unsere Kaufkraft weiter zu. Das Ziel, den Wohlstand zu sichern, muss bleiben.

Sie sprachen von fünf Erfolgsfaktoren für den Wohlstand. Der fünfte? 

Dass wir ein wendiges Motorboot sind. Im Kontrast dazu ist die EU ein Tanker. Sie schafft es kaum, sich zu bewegen. Umso mehr beeindruckt mich, was unsere Staatssekretärin für Wirtschaft, Helene Budliger Artieda, international für die Schweiz herausholt. Sie ist eine sehr geschickte Frau. Bundesrat Parmelin hat mit ihrer Ernennung eine sehr glückliche Hand gehabt.

Was meinen Sie konkret? 

Ich meine Frau Budligers Methode. Poppt irgendwo ein Konflikt auf, evaluiert sie rasch die Optionen, spricht mit allen Betroffenen und löst dann den Konflikt, sodass alle in ihre Richtung rudern, sei es mit der EU – etwa im Sanktionsrecht –, sei es mit den USA oder sei es im Inland mit den Sozialpartnern – Beispiel Personenfreizügigkeit. Augenfällig war dies auch im Abschluss des Freihandelsabkommens mit Indien. Sie überholte alle anderen Verhandlungspartner. Die Schweiz kann als wendiges Motorboot wirtschaftlich viel bewirken.

Alle rudern in Budligers Richtung? Ihr Bauernverband hat immer wieder mit Blockaden gedroht, sollte die Schweiz ein Freihandelsabkommen abschliessen, das den Abbau von Agrarzöllen bedingt. So etwa mit den USA. 

Die Bauern haben den Abkommen mit China und Indonesien zugestimmt. Und sie werden vermutlich auch jenes mit Indien befürworten. Auch für das Abkommen mit Mercosur haben sie Zustimmung signalisiert, wobei es dort vermutlich noch Begleitmassnahmen für die Landwirtschaft brauchen wird. Wichtig ist, dass die Landesregierung die Befindlichkeiten aller Betroffenen in der Schweiz klärt und es schafft, sie hinter ein Projekt zu scharen und Abkommen zu schliessen. Die Kultur des Kompromisses ist ein zentraler Faktor unseres Erfolgs.

Ritter ist der Meinung, dass die Schweiz bei der Zuwanderung eine Kapazitätsgrenze erreicht hat.
Foto: Philippe Rossier

Beispiel US-Freihandelsabkommen: Die Exportindustrie und die Pharmachemie wollen es unbedingt. Ems-Chemie-Chefin Magdalena Martullo-Blocher will verhandeln. Doch dieses Abkommen gibt es nur zum Preis, dass der Agrargrenzschutz fällt. Aber die Bauern und Bäuerinnen, die 0,6 Prozent der Wirtschaftsleistung ausmachen, blockieren ein Abkommen, das für 50 Prozent der Schweizer Wirtschaft gut wäre. 

Auch hier braucht es einen Kompromiss. Die Gespräche sind noch nicht abgeschlossen – warten wir ab.

Wir sprechen von den Wohlstandsfaktoren. Haben die Bäuerinnen und Bauern den Wohlstand geschaffen? 

Sie haben auf jeden Fall stark dazu beigetragen. Und viele Bauern sind später in der Industrie und in den Banken aufgestiegen. Sie waren immer ein integrierender Faktor, der den Zusammenhalt in unserem Land gestärkt hat.

Früher waren fast alle Bauern oder Bäuerinnen, doch das Land war arm. Erst mit der Industrie stieg der Wohlstand. 

Was ich meine, ist, dass sie für gute Wirtschaftsbedingungen sorgen. Landwirtschaft und Exportwirtschaft sind keine Gegnerinnen. Das gemeinsame Ziel ist ja, dass die Schweiz weiterhin ein erfolgreiches Land ist.

Die Pharma-, die Tech-Industrie und die Banken haben Sie nicht erwähnt. Doch sie sind die wirtschaftlichen Zugpferde. Gerade in der Ostschweiz, die Sie vertreten, gibt es sehr viele Tech-Unternehmen. 

Sie sollten nicht gesellschaftliche Gruppen gegeneinander ausspielen. Denn nur gemeinsam sichern wir den Erfolg der Schweiz. Wenn man sich die Maslowsche Bedürfnispyramide anschaut, wird klar: An der Basis stehen die Ernährung und die Sicherheit. Die Bauern erbringen diese Basisdienstleistung.

Laut Markus Ritter erbringen die Bauern eine Basisdienstleistung.
Foto: Philippe Rossier

Viele Länder haben viele Bauern und Bäuerinnen und genug zum Essen, und doch bleiben sie arm, etwa in Südamerika. 

Die Länder dort haben viel Grund und Boden: Brasilien, die Ukraine oder Argentinien. Wir haben wenig.

Doch verstehen Sie die Sorge der Exportindustrie? Wenn mit Ihnen ein weiterer Bauernvertreter in den Bundesrat kommt, scheint die Bauernübermacht in diesem Gremium auf lange Jahre hinaus zementiert zu sein. 

Ich verweise auf unsere Zusammenarbeit. Die Exportwirtschaft allein schafft das nicht, weil sie nicht so tief im politischen System verankert ist wie die Landwirtschaft. Jede Einflussgruppe hat Stärken und Schwächen. Nur zusammen sind wir stark.

Anders gesagt: Der Tech-Verband Swissmem ist in Bundesbern schwach vertreten? 

Die Tech-Branche verfügt über wenig direkte Vertreterinnen und Vertreter. Neu ist Simon Michel im Parlament. Die Pharmaindustrie ist über Frau Martullo-Blocher vertreten. Mehr aber nicht. Der Bauernverband hat viel mehr direkte Vertreter im Parlament. 

Die Exporteure und die Pharmaindustrie fürchten, dass ein Herr Ritter auf ewig ein Bauernlobbyist bleibt – auch im Bundesrat? 

Sollte ich in den Bundesrat gewählt werden, hätte ich eine völlig andere Rolle. Das Agrardossier wäre vorbei.

Nationalrat Markus Ritter (Mitte-Partei) und Bundesratskandidat.
Foto: Philippe Rossier

Reden wir über die Zuwanderung. Ist die Schweiz überfremdet? 

Wir hatten in den letzten Jahren eine sehr starke Zuwanderung. Diese führte zu Problemen der Integration, etwa im Zusammenhang mit verfügbaren Wohnungen, Ausbildungsplätzen und Staus. Auch die sprachliche Integration ist teilweise eine Herausforderung. Wir haben vermutlich eine gewisse Kapazitätsgrenze erreicht, mit der wir nun geschickt umgehen müssen.

Wegen der Migration? 

Zum Teil sind es fremde Kulturen und Werte, die aufeinanderprallen und das Zusammenleben erschweren. Das führt zu Konflikten mit der Gefahr zur Radikalisierung. Dies lähmt in vielen Ländern das Regieren, siehe Frankreich oder Deutschland. Das Volk vertraut dem politischen Zentrum nur so lange, wie das Parlament die Ängste der Menschen ernst nimmt.

Man kann Migrationsängste auch schüren. Siehe Autobahnabstimmung. SVP-Präsident Marcel Dettling behauptete, dass das Nein von Protestwählern und -wählerinnen wegen der Einwanderung gekommen sei. Die Nachwahlbefragung zeigte, dass dies keine Rolle spielte. 

Die Rückmeldungen, die ich bekommen habe, gehen in eine andere Richtung: Ein entscheidender Block stimmte auch wegen der Migration dagegen. Wenige Prozente gaben am Schluss den Ausschlag.

Der Bundesratskandidat war der einzige Bauer an der Fachhochschule.
Foto: Philippe Rossier

Dann ignorieren Sie die Fakten. 

Das Problem war doch, dass sich weder die Basis der SVP noch die Basis der FDP oder jene meiner Partei geschlossen dafür ausgesprochen haben. So gewinnt man keine Abstimmung. Die Kunst im Bundesrat ist, dass man mit Vorlagen genug stabile Mehrheiten schaffen kann, damit sie im Parlament und bei einer Volksabstimmung Bestand haben können. In diesem Punkt will ich mein Know-how in den Bundesrat hineintragen.

Sie sagen, Sie hätten das bessere Feeling als andere Bundesräte ... 

Wichtig ist es, am Puls der Bevölkerung zu bleiben, um zu verstehen, was die Menschen bewegt und beschäftigt. Ich sitze oft an Stammtischen. Dort bekommt man ein Gefühl dafür, was die Leute politisch umtreibt.

Wenn die Pharmaindustrie sagt, sie brauche die Personenfreizügigkeit mit der EU, um weiterhin erfolgreich zu sein: Wo stehen Sie? 

Die bilateralen Verträge haben eine entscheidende Bedeutung für die Wirtschaft insgesamt. Der Bundesrat will die Weiterentwicklung. Entscheidend ist, dass eine Mehrheit das EU-Vertragspaket mitträgt. Die Polarisierung, die wir teilweise beobachten können, bereitet mir jedoch Sorgen.

Sind Sie dafür oder dagegen? 

Noch liegt der Verhandlungstext nicht vor. Solange ich diesen Text nicht gelesen habe, kann ich mich auch nicht festlegen. Was mir bereits Sorgen bereitet, ist das innenpolitische EU-Bashing, das vermutlich der Publikation des Textes folgen wird. Da werden markige Voten fallen, und diese werden auch in Brüssel und in den Mitgliedsländern gelesen werden. Eine Anti-EU-Welle wird uns in den Beziehungen nicht dienlich sein. Ich plädiere deshalb für ein überlegtes Vorgehen.

Sie meinen, der Ruf der Schweiz in der EU könnte Schaden nehmen. 

Das Risiko besteht tatsächlich. Die EU-Länder sind der grösste Handelspartner und die besten Nachbarn. Wichtig ist, dass wir mit der EU, selbst nach einem potenziellen Nein, vertrauensvoll zusammenarbeiten können.

Der EU mit einem Nein die Tür vor der Nase zuzuschlagen, wäre gefährlich? 

Nein. Gefährlich ist, wenn die politische Debatte im Vorfeld der Abstimmung die EU beleidigt, sodass unser sympathisches Image der bescheidenen, rechtschaffenen Schweiz – etwa des guten Käses, der feinen Schokolade, der präzisen Uhren – Schaden nimmt. Wir müssen uns klar werden: Wir sind mit 9 Millionen Menschen ein kleines Land. Allein Bayern hat 12 Millionen, Nordrhein-Westfalen 17 Millionen. Daher ist etwas Demut und kluges Handeln in dieser Situation von grosser Bedeutung.

Nationalrat Markus Ritter (Mitte-Partei) und Bundesratskandidat, trifft «Handelszeitungs»-Bundeshausredaktor Andreas Valda zum Interview.
Foto: Philippe Rossier

Werden Sie der SVP-Initiative «Zehn Millionen sind genug» zustimmen? 

Ich weiss es noch nicht. Die Herausforderungen mit der Zuwanderung der rund 90’000 Ukraine-Flüchtlinge und die irreguläre Migration haben der Diskussion nicht geholfen. Die 4 Milliarden Franken Kosten für das Asylwesen belasten unseren Haushalt sehr.

Wäre die Arbeitsmigration unproblematisch, wenn die Asylmigration und Ukraine-Flüchtlinge nicht wären? 

Ich teile diese Meinung, die Economiesuisse-Präsident Christoph Mäder als Erster öffentlich geäussert hat, im Grundsatz. Im Fall der Ukraine gilt es sicher, etwas zu differenzieren. Qualifizierte Einwanderung in den Arbeitsmarkt ist wichtig. Schauen Sie sich Branchen wie den Bau und das Gesundheitswesen an: Ohne diese zugewanderten Arbeitskräfte hätten wir grosse Lücken.

Dasselbe gilt bei den Erntehelferinnen in der Landwirtschaft. Sie brauchen sie. 

Ja, das sind rund 30’000, die kurzfristig einreisen. Auch die brauchen wir.

Doch im Asylwesen sollte die Zuwanderung eingeschränkt werden? 

Wo keine Qualifikation und keine Sprachkenntnisse da sind und Menschen vom Sozialwesen leben, braucht es einen kritischen Blick.

Sie meinen die – je nach Kanton – 60 bis 85 Prozent nicht arbeitenden ukrainischen Flüchtlinge? 

Die Bevölkerung muss nachvollziehen können, warum wir jährlich 1,2 Milliarden Franken für diese Flüchtlinge ausgeben. Wenn jemand zwei Jahre Sprachkurse vom Bund bezahlt besucht, ist es legitim, zu erwarten, dass sich diese Person beruflich auch um eine Arbeit bemüht.

Viele Ukrainerinnen und Ukrainer in den Niederlanden arbeiten in der Landwirtschaft. Und in der Schweiz? 

Wir sehen in der Schweiz tatsächlich eher weniger Ukrainer in der Landwirtschaft arbeiten.

Wäre es besser, wenn die Mitte wieder CVP heissen würde? 

Ich bin hier voll bei Gerhard Pfister: Eine Partei kann heute die hohen christlichen Werte kaum mehr für sich allein beanspruchen. Hinzu kommt: Wir wollen auch in den Städten weiterwachsen. Das gelingt uns als Mitte-Partei.

Nationalrat Markus Ritter (Mitte-Partei) und Bundesratskandidat.
Foto: Philippe Rossier

Die Mitte hat zwei interessante, aber teure Forderungen: die Abschaffung der steuerlichen Heiratsstrafe und die Abschaffung der AHV-Heiratsstrafe. Halten Sie daran fest? 

Ja, beide sind in hohem Grad ungerecht. Heute bekommen Ehepaare 25 Prozent weniger AHV-Rente als unverheiratete Paare. Diese Diskriminierung möchte die Mitte beenden. 

Und die Kosten einer Reform? Die Mitte lancierte diese Volksinitiativen, ohne einen Preis zu nennen. 7 Milliarden Franken zusätzlich soll allein die Aufhebung der AHV-Ehepaarrente kosten. 

Nur weil es etwas kostet, kann eine eklatante Diskriminierung doch nicht ignoriert werden. Und wie ich unser System kenne, wird es am Schluss nicht auf zweimal 100 Prozent der AHV-Rente für die Eheleute hinauslaufen, sondern vermutlich eher auf einen Betrag von heute zwischen 150 und 200 Prozent, im Sinne eines Gegenvorschlags.

Und das Sparprogramm? Stehen Sie dahinter? Ihr St. Galler Parteikollege Benedikt Würth schlägt eine befristete Erhöhung der Mehrwertsteuer vor, um die Mehrkosten der Rüstung zu finanzieren, statt stark zu sparen. 

Am Ende braucht es gemischte Massnahmen. Die Budgetposten, die in den letzten Jahren am stärksten gewachsen sind, sind gebunden. Sie sollten aber auch diskutiert werden können.

Das grösste Budgetwachstum hat die AHV. Dieses Budget ist nicht kürzbar. Die günstigste Variante wäre die Erhöhung des Rentenalters auf 67 Jahre. 

Das sehe ich als ein sehr schwieriges Vorhaben. Erfolg haben könnten wir mit einer weiteren Flexibilisierung. Menschen, die ihr Leben lang körperlich hart gearbeitet haben, kann man nicht zumuten, dass sie zwei Jahre länger arbeiten müssen. Deshalb heisst die Lösung vermutlich eher: flexibles Rentenalter. Zudem muss die Wirtschaft auch Stellenangebote schaffen, bei denen ältere Fachkräfte ihre grosse Erfahrung mit kleineren Pensen einbringen können.

Wie arbeiten Sie als Chef? 

Es ist ganz wichtig, dass man Menschen für eine Aufgabe begeistern kann. Wenn Sie es als Chef einmal schaffen, eine Organisation in eine Erfolgsspirale zu bringen, dann zieht dies immer die besten Leute nach. Entscheidend ist, dass die Leute eng und vertrauensvoll miteinander arbeiten. Dann haben Sie Erfolg und die noch besseren Leute. Sie haben die besseren Prozesse, die Projekte laufen, und alle ziehen mit. Wenn die Begeisterung mal da ist, dann ist das wie eine geölte Maschine.

Waren Sie schon einmal in einer Abwärtsspirale? 

In meinem Verband habe ich das bisher noch nicht erlebt.

Ihre Partei, die damalige CVP, war seit Anfang der 90er-Jahre in einer Abwärtsspirale. 

Deshalb schätze ich Gerhard Pfister so sehr. Er hat die Abwärtsspirale der Partei gestoppt. Die Partei muss daher die Nachfolge von Gerhard Pfister sorgsam regeln. Es muss jemand sein, der diese Bewegung weiter nähren kann.

Sie sind überzeugt: Die gute Führung ist entscheidend fürs Gelingen. 

Das ist nicht nur meine Meinung. Das ist der Konsens in der Betriebswirtschaft: Die Unternehmenskultur wird von oben geprägt und ist entscheidend für Erfolg. Dazu gehört die richtige Fehlerkultur. Wenn man systematisch Fehler harsch sanktioniert, will niemand mehr Verantwortung übernehmen, und alle haben Angst vor Konsequenzen. Ich finde, dass Fehler dazugehören und dass sie nicht hart bestraft werden sollen, sondern dass man darüber spricht, daraus lernt und einander hilft, so schnell wie möglich wieder in die Spur zu kommen. Probleme sind wie ein Feuer. Es beginnt im Kleinen, wird grösser und grösser, und am Schluss hat man einen Vollbrand, der schwierig zu löschen ist. Ein guter Chef löscht das Feuer schon im Kleinen.

Sie stehen täglich um fünf Uhr auf – selbst in Bern im Hotel, wo Sie nicht im Stall Ihrer Kinder mithelfen können. Was machen Sie fern von zu Hause? 

Die Medien lesen. Ich möchte verstehen, wie sich das Land und die Bedürfnisse der Bevölkerung entwickeln. Zudem gebe ich derzeit jeden Tag zwei, drei Interviews. Jede Redaktion setzt andere Gewichte. Es ist wie eine Geschichte mit fortlaufenden Kapiteln. Ich möchte das kritisch reflektieren.

Haben Sie ein Drehbuch? 

Für meine Bundesratskampagne? Natürlich. Ich habe in meiner Laufbahn viele Kampagnen bestritten. Man weiss im Voraus nie, wo sie landet. Man hat ein Ziel, aber der Weg dorthin ist nicht vorhersehbar, das kann sich stündlich ändern.

Stündlich? 

Manchmal. Da steht eine sehr qualifizierte Gruppe von Personen dahinter, die analysiert durchgehend die Lage. Nur mit professioneller Arbeit kannst du Menschen überzeugen. Wer bloss Floskeln liefert, wird vom Publikum schnell entlarvt.

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