Plötzlich gibt es diesen Moment, da die Stimme von Ignazio Cassis (56) zittert. Seit Stunden spricht der Bundesratskandidat mit BLICK souverän über seine politische Linie, präsentiert sich als «Gesellschafts- und Wirtschaftsliberaler», betont, dass in eine Landesregierung endlich ein italienischsprachiger – nicht Tessiner – Bundesrat gehöre.
Und im Moment des Nachdenkens kommen im Mann, der an diesem heissen Augusttag hellblaue Hosen und ein rosa T-Shirt trägt, alte Gefühle hoch. Wir sprechen über den Buben Ignazio, und so ist er in Gedanken wieder 13-jährig, fühlt sich wegen des Verlusts seines rechten kleinen Fingers behindert (er reisst ihn an einem Zaun ab). Und wird im Bergdorf Sessa TI, rund drei Kilometer vor der Grenze zu Italien, wegen seiner Brille und des Schielens als «Quattrotsch – Vieräugiger» beschimpft.
«Das Gehänseltwerden hat mich geprägt», sagt Ignazio Cassis. «Noch heute werde ich wahnsinnig wütend, wenn ein Mensch keinen Respekt vor jemand Schwächerem hat.»
Der gemobbte Bube, aus dem ein Liberaler mit sozialer Ader wurde. So sieht sich der Arzt und Krankenkassenlobbyist am liebsten. Am 20. September will er den Sitz von Didier Burkhalter (57) erben. Aber wer ist dieser klein gewachsene Mann mit dem spitzbübischen Lächeln wirklich?
Cassis weiss, dass Machtkämpfe nichts bringen
Er sei ein wenig auch der Liebling seiner Mutter, verrät Cassis' Ehefrau Paola, als BLICK das Paar zu Hause in Montagnola TI besucht. Cassis ist das zweitjüngste von vier Geschwistern und der einzige Bub in der Familie. Vom Aufwachsen mit drei Schwestern und nur einem Badezimmer profitiere er heute im politischen Leben: «Glauben Sie mir, ich weiss, dass Machtkämpfe nichts bringen.» Vom Vermittler in der Familie zum Konsenspolitiker in Bern: Auch so sieht sich Cassis gern.
Zurück in sein Haus, wo BLICK den Swimmingpool nicht fotografieren darf, mit hellen Steinböden, viel Glas und bunten Mustern. Seit 2002 besitzt das Paar das Anwesen, für Ignazio Cassis hätte es keinen Garten gebraucht. Er habe im Elternhaus so viel ausmisten müssen – die Familie Cassis hielt Kaninchen, Hühner und Schafe –, dass er genug Natur für zwei Leben eingeatmet habe. Und so ist alles Grüne, wie auch die Küche, das Reich von Paola Cassis. Wie findet sie es, dass ihr Mann eine Frau im Bundesrat verhindern könnte? «Wenn die Frau besser als mein Mann ist, soll die Frau gewählt werden», sagt sie.
Distanz als Rezepte für eine glückliche Ehe
Mit der Chefärztin der Radiologie ist der FDP-Politiker seit 21 Jahren verheiratet. Seit ihr Mann in Bundesbern politisiert, sieht sie ihn nur an den Wochenenden. «Distanz ist auch ein Rezept für eine glückliche Ehe», sagt Paola Cassis. Auch wenn er Bundesrat wird, würde die Nordtessinerin im Süden bleiben. «Ausser er arbeitet dann auch an den Wochenenden in Bern. Dann würde ich in die Deutschschweiz ziehen.»
Kinder hat das Paar keine. «Wir hätten gerne welche gehabt, aber es sind keine gekommen», sagt er. Und gibt zu bedenken: «Hätten wir Kinder, wäre ich vielleicht gar nicht in die Bundespolitik eingestiegen.»
Doch auch ohne Vatersein will Ignazio Cassis Familienpolitik betreiben. «Die Wirtschaft muss klar Verantwortung übernehmen und unserer Gesellschaft bei der Kinderbetreuung helfen», sagt der Liberale. Er erzählt von seiner Schwägerin, die bei einem Unternehmen in Basel arbeitet und von der Firma in der Kinderbetreuung unterstützt wird. «Wir brauchen Chefs, die soziale Verantwortung übernehmen. Von dieser Schweiz des Miteinanders träume ich.
Das Tessin als Frühwarnsystem
Auffallend rechts argumentiert er in Migrationsfragen. Das Pendel schlage «zurück in eine nationale Identität», ist er überzeugt. In der «Globalisierungseuphorie» sei es politisch unkorrekt gewesen, «nur schon die Frage nach Grenzen zu stellen». Da habe auch seine FDP die Zukunft falsch eingeschätzt. «Diese Migrationsströme werden so nicht weitergehen können. In ganz Europa ertragen es die Menschen nicht mehr.»
Cassis will dieses spezielle Tessiner Verhältnis zu Grenzen wieder nach Bern tragen. Er spricht von «Verwurzelung» – und dass sie «das Sein des Menschen bestimmt».
Stimmen gewinnen will Cassis am rechten Rand der Bundesversammlung: «Wir müssen die Zuwanderung so steuern, dass sie der hiesigen Bevölkerung gerecht wird», sagt er. «Die nationalistischen Bewegungen sind sowohl international wie auch in der Schweiz aus der gleichen Sorge
entstanden: die Migration als Drohkulisse gegen unserer Verwurzelung.»
Sein Tessin war hier ein «Frühwarner», wie er sagt. «Die Lega hat dieses Problem besser als andere beim Namen genannt, obwohl sie dann auch kaum realistische Lösungen hatte».
Dennoch hat Cassis bei der Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initative als FDP-Fraktionschef mit der SP paktiert, sich gegen fixe Kontingente und somit die SVP gestellt. «Da habe ich bewiesen, dass ich nicht ideologieblind bin und mit links wie rechts gut arbeiten kann.»
Christliche Werte will er nicht loswerden
Den politischen Spagat kann er, erlernt im Elternhaus. Cassis Vater war kein Freund der Kirche, seine Mutter hingegen ist «sehr katholisch». Auch heute betet der einstige Ministrant «ab und zu», er schätzt die Kirche als «Ort des Denkens und Treffens mit mir selbst». Die christlichen Werte habe er mit der Muttermilch aufgesogen, «und die will ich auch nicht loswerden».
Auf seinem Nachttisch liegt ein Buch über den politischen Islam und Dschihadismus. «Der Frieden ist nicht gottgegeben», sagt er. «Syrien oder die Ukraine, aber auch die Terrorattacken in Europa und den USA zeigen, dass die Weltordnung, wie wir sie kennen, am Wanken ist.» Er mahnt: Unsere Aussenpolitik müsse ihre Tradition als «Vermittlerin zwischen Feinden» wieder verstärken. Cassis glaubt «stark» an das internationale Genf und dessen «Funktion als Brückenbauerin».
Cassis, der Brückenbauer: So sehen ihn seine Tessiner Weggefährten. «Ignazio kann politische Lager gut miteinander verbinden. Er vermittelt auch oft zwischen den Sopra- und den Sottoceneri», erklärt Giovanna Masoni (53), ehemalige Stadtpräsidentin von Lugano. Sein ehemaliger Professor und heutiger Parteikollege, alt Ständerat Felix Gutzwiller (69), meint: «Ignazio war schon als mein Student überlegt und fiel mir wegen seiner Gescheitheit auf.» Vor allem aber sei er «gut im Umgang mit Menschen».
Cassis hat drei politische Väter
Hier zehrt der Musterkandidat von seiner Vergangenheit als Assistenzarzt in Spitälern und Kantonsarzt fürs Tessin. Zweiteres ebnete dem politischen Spätzünder den Weg in die Bundespolitik: Seine Partei wollte einen Mediziner nach Bern senden. Dort arbeitet sich Cassis innerhalb von vier Jahren vom unbekannten Greenhorn zum FDP-Fraktionschef hoch und sticht in einer Kampfwahl den Berner Christian Wasserfallen (36) aus.
«Ich habe drei politische Väter», erzählt Ignazio Cassis. «Auf intellektueller Ebene ganz sicher Kaspar Villiger.» Er habe die Bücher des umstrittenen alt Bundesrats förmlich aufgesogen. Sein politisches Herz wiederum schlage für einen FDPler, alt Bundesrat Pascal Couchepin (75). «Seine Liebe für die Konfrontation war ansteckend. Nur Couchepin konnte Freude daran haben, so unbeliebt zu sein.»
Von seinem dritten politischen Vater, FDP-Stratege Fulvio Pelli (66), lernte er seinen Leitspruch: «Liberal ist derjenige, der bis zum Schluss das Gefühl hat, der Gesprächspartner könnte auch recht haben.» Das bedeute aber nicht, dass er «harmoniebedürftig à la Deutschschweizer» sei.
Egal, mit wie vielen Konkurrenten Cassis sich anlegt, für seine Mutter bleibt ihr einziger Bube der Liebling. Bei ihr lagert er auch seinen emotionalsten Besitz, die Jazz-Plattensammlung seiner Jugend. Früher habe er seine Mutter fast zum Verzweifeln gebracht, sagt er, «heute würde man mir wahrscheinlich Ritalin geben».
Doch wenn Ignazio Cassis seine Gitarre zur Hand nimmt und mit voller Kehle ein kräftiges «Che sarà» schmettert, dann findet er innere Ruhe – und muss niemals zittern.