Nach ihrem historischen Wahlsieg fordern die Grünen nun immer deutlicher einen Bundesratssitz. Am 11. Dezember finden die Gesamterneuerungswahlen statt. Ins Visier geraten ist FDP-Bundesrat Ignazio Cassis (58).
Die Grünen argumentieren mit ihrem Wähleranteil: Sie haben neu 13,2 Prozent und keinen Bundesrat, die FDP hat 15,1 Prozent und zwei Bundesräte. Die FDP kontert mit Kontinuität und Tradition: Bundesräte würden nicht abgewählt, die Grünen sollen 2023 beweisen, dass ihr Erfolg mehr ist als ein momentaner Hype.
SonntagsBlick wollte mit Cassis darüber reden, wie er mit der Unsicherheit dieser Tage umgeht. Da schlug er vor, ihn an die Unesco-Konferenz nach Paris zu begleiten, um ihn «on the job» als Aussenminister zu erleben – «weil ich meine Aufgabe jeden Tag aufs Neue liebe».
Der Bundesratsjet, eine Falcon 900EX, bringt uns am Mittwochabend auf einen Militärflugplatz in Paris. Dort wartet Botschafterin Livia Leu (58), die Gastgeberin des Abends. Ihre Botschaft, das Hôtel de Besenval, ist eine der schönsten überhaupt: ein Stadtpalais von 1706 mit wunderschönem Garten. Zum Diner sind drei Gäste geladen: zwei hohe Funktionäre der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und ein Abgeordneter aus Präsident Macrons Bewegung En Marche.
Cassis erklärt die Schweiz vor einem riesigen Wandteppich: Dieser zeigt die Erneuerung des Friedensvertrags zwischen Sonnenkönig Louis XIV und Schweizer Kantonsvertretern anno 1663 in Versailles. 13 Mann kamen – weil sie sich nicht einigen konnten, wer das Land vertreten soll. «Da hat sich nie viel geändert, auch heute ist die Macht bei uns geteilt», erklärt Cassis.
Cassis übernachtet im Gästezimmer der Botschaft, seine Delegation in einem nahen Hotel. Am nächsten Tag findet das Interview mit SonntagsBlick statt.
SonntagsBlick: Vier Wochen bis zu den Bundesratswahlen: Haben Sie gut geschlafen?
Ignazio Cassis: Ich schlafe immer gut und danke Gott dafür, dass dies so ist.
Was, wenn Sie abgewählt werden?
Ich bin Diener der Schweiz und ihrer Institutionen. Das Parlament muss entscheiden, ob ich weiterhin dienen darf oder nicht. Das gehört zur Politik.
Was unternehmen Sie jetzt?
Ich betreibe nicht Wahlkampf, als Bundesrat spreche ich schliesslich ständig mit den Parlamentariern. Es wäre eigenartig, wenn ich erst jetzt damit beginnen würde (lacht).
Die Grünen sind viertstärkste Partei geworden. Ist es nicht legitim, dass sie einen Bundesrat fordern?
Diese Überlegungen müssen sich die Parteien und die Fraktionen machen, nicht ich als Bundesrat.
Als Bundesrat sind Sie auch Vertreter Ihrer Partei, der FDP. Will sie einfach ihre Macht erhalten?
Als ich 2007 in den Nationalrat gewählt wurde, war eine ähnliche Diskussion im Gang, weil die Grüne Partei auch damals deutlich zulegte. 2011 verloren sie dann wieder fast so viel. Solche Diskussionen sind normal. Als Mediziner sage ich: Es ist wie beim menschlichen Körper. Wenn etwas passiert, versuchen sich alle Organe neu zu organisieren.
Wie erklären Sie sich, dass nur Sie angegriffen werden und nicht Ihre Parteikollegin Karin Keller-Sutter?
Vielleicht weil ich mehr störe, weil ich mehr Dinge gemacht habe, die auf Kritik stossen. Ich nehme kein Blatt vor den Mund, ich hinterfrage alles, ich gehe vieles auf eine neue Art an. Damit verärgere ich auch Leute, und es ist normal, dass es Reaktionen gibt.
Sind Sie für die Linke Sinnbild des rechten Bundesrats, weil Sie als Rechtsbürgerlicher den linksbürgerlichen Didier Burkhalter abgelöst haben?
Das Parlament wusste, wo ich stehe, als es mich vor zwei Jahren wählte. Die Linken haben mich nicht gewählt. Natürlich stehen hinter der Kritik auch taktische Überlegungen und Machtfragen.
Wie stark trifft Sie Kritik?
Konstruktive Kritik schätze ich, denn die bringt mich weiter. Mühe habe ich mit zerstörerischer Kritik, die auf die Person zielt. Denn mir ist es wichtig, dass sich Menschen mit Respekt begegnen.
Wo erleben Sie zerstörerische Kritik?
Wenn es um mein Verhalten als Angehöriger einer Minderheit geht. Ich bin der einzige Bundesrat, der sich ständig in einer Fremdsprache ausdrücken muss. Ich spreche einigermassen gut Französisch und Deutsch, aber ich habe nicht die gleiche Genauigkeit im Ausdruck wie in der Muttersprache.
Wo fühlen Sie sich falsch verstanden?
Die Polemik um meine Aussagen zu den flankierenden Massnahmen beim Rahmenabkommen ist ein Beispiel. Ich weiss nicht mehr, wie ich es genau formuliert habe. Wahrscheinlich habe ich Worte benutzt, die in der Deutschschweiz emotional nicht richtig aufgefasst wurden. Man hätte zumindest rückfragen können, was ich genau gemeint habe. Denn inhaltlich war es eine Banalität. Aber es hiess sofort, ich wolle den Arbeitnehmerschutz aushöhlen, was nicht stimmt.
Sind Sie als Tessiner benachteiligt?
Ja, absolut. Das spüre ich als Bundesrat so stark wie nie zuvor. Die Minderheiten sind sympathisch für die 1.-August-Reden. Wenn es aber um Machtteilung geht, spielen sie keine Rolle mehr.
Es gibt auch sachliche Kritik: Als Aussenminister stellen Sie neu die Wirtschaft in den Vordergrund und nicht mehr die humanitäre Hilfe.
Das stimmt nicht. Wegen der weltweiten Konflikte leistete die Schweiz in den letzten zwei Jahren sogar mehr humanitäre Hilfe. Gemäss Verfassung habe ich den Auftrag, für Unabhängigkeit, Wohlstand und Sicherheit zu sorgen. Wenn wir unsere Interessen im Ausland verteidigen, dann verteidigen wir nicht nur Sicherheit und Menschenrechte, sondern auch den Wohlstand. Das ist eine triviale Aussage, aber man darf es trotzdem kaum sagen.
Wie soll die Schweiz ihre Interessen besser vertreten?
Wir sollten unsere guten Dienste aktiver anbieten und darüber reden. Die Schweiz betreibt weltweit 170 Vertretungen. Sie können als Hub dienen – nicht nur für humanitäre Hilfe, Entwicklungszusammenarbeit oder diplomatische Beziehungen, sondern auch für Wirtschaft und Tourismus.
Müsste die Schweiz nicht mehr einfordern, etwa Entwicklungshilfe gegen die Übernahme abgewiesener Asylbewerber?
Wir haben das geprüft und sind zum Schluss gekommen, dass diese Verknüpfung zwar verlockend tönt, aber der falsche Weg wäre. So würde die Möglichkeit gekappt, überhaupt miteinander zu sprechen, und die Verhältnisse würden dadurch nicht besser.
Kürzlich wurde ein abgewiesener Asylbewerber aus Marokko kriminell und konnte trotzdem nicht zurückgeschafft werden, wie BLICK aufzeigte. Warum aber bekommt Marokko trotzdem Entwicklungshilfe?
Ich verstehe den Unmut. Aber wo wir Verträge haben, müssen wir sie einhalten. Tatsächlich erwarte ich jedoch, dass jeder in meinem Departement ständig die Frage im Kopf hat: Was genau tun wir und welche Gegenleistung könnten wir dafür erhalten?
Sie haben sich damit in Ihrem Departement Feinde geschaffen.
Vielleicht ist das so. Aber man muss den Mut haben, Klartext zu reden, auch wenn es nicht überall gut ankommt. Ich bin kein taktischer Halblügner. Ich versuche, so klar und geradlinig wie möglich zu sein und sprachlichen Nebel wegzublasen.
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Am Donnerstagmorgen schreitet Cassis in der Botschaft von Büro zu Büro, schüttelt Hände, fragt, wie es laufe, macht da und dort einen Spruch – etwa zu Madame Champion, die für die Wirtschaft zuständig ist. «Bei Ihrem Namen müssen wir ja die Besten sein», sagt ihr oberster Chef lachend.
Dann gehts zu einer weiteren Vertretung der Schweiz in Paris: ins Büro von Botschafter Martin Michelet (50) im schmucklosen Gebäude der Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (Unesco), einer 1945 gegründeten Sonderorganisation der Uno. Sie umfasst 193 Mitgliedstaaten, darunter die Schweiz.
Corinne Graber (63) arbeitet hier seit 32 Jahren – «aber es ist das erste Mal, dass uns ein Bundesrat in unseren Büros besucht», sagt sie erstaunt, als Cassis auch hier jeden Mitarbeiter begrüsst.
Nach dem Briefing durch den Botschafter geht es in den Plenarsaal, wo die jährliche Generalversammlung stattfindet. Um 11.30 Uhr ist die Schweiz an der Reihe. Cassis möchte mit seiner Rede Werbung machen: Am Mittwoch wird der Exekutivrat gewählt, die Schweiz bewirbt sich um einen Sitz. «Jeder weiss, dass die Altstadt von Bern, die drei Schlösser von Bellinzona oder die Fête des Vignerons Unesco-Weltkulturerbe sind. Die Schweiz finanziert diese Uno-Agentur mit und möchte darum auch mitreden», sagt Cassis.
Zwei auf Kandidaturen spezialisierte Diplomaten aus Bern lobbyieren seit Tagen bei den Delegierten aller Länder. Nach Cassis' Rede sind alle zu einem Empfang eingeladen, der Bundesrat spricht über die kulturelle Vielfalt – und stösst an, mit Merlot del Ticino natürlich.
Der Anlass ist ein Erfolg, nicht nur weil der Saal gestossen voll ist: Die markanten roten Taschen mit dem Schweizerkreuz drauf und den Give-aways drin (Sigg-Flasche und Schokolade) sind danach im ganzen Hauptgebäude zu sehen.
Der Zeitplan ist dicht, der Bundesratsjet muss um 15.30 Uhr in Richtung Militärflugplatz Emmen LU abheben – Cassis hat am frühen Abend den nächsten Termin in Luzern.
Was macht Ihnen Freude am Job des Aussenministers?
Ich bin aus Liebe zu meinem Land Bundesrat geworden. Es macht mir Freude, wenn ich die Werte der Schweiz weltweit vertreten darf.
Man hört, es gebe einen Plan: Alain Berset soll Aussen- und Sie Innenminister werden. Haben Sie Wechselgelüste?
Überhaupt nicht, ich will Aussenminister bleiben. Ich habe die «Aussenpolitische Vision 2028» lanciert, weil ich beabsichtige, diesen Job mindestens zehn Jahre zu machen.
Sie waren Arzt, wären damit der ideale Innenminister.
Nach 25 Jahren Sozial- und Gesundheitspolitik bin ich über Nacht Aussenminister geworden. Die anderen sechs Bundesräte haben das entschieden, als Neuer hatte ich nichts zu sagen. Ich habe den Entscheid nicht nur akzeptiert, sondern mich sehr gefreut. Und ich freue mich noch heute jeden Tag.
Gibt es Anzeichen, dass der Gesamtbundesrat andere Pläne hegt?
Nein, bis jetzt war nie die Rede davon.
Als Aussenminister betreuen Sie das derzeit schwierigste Dossier. Trauen Sie sich zu, beim Rahmenabkommen mit der EU eine Lösung zu finden?
Selbstverständlich – obwohl wir derzeit eine unmögliche Situation in unserer Beziehung mit der Europäischen Union haben.
Warum haben Sie es bis jetzt nicht geschafft?
Moment. Als ich gewählt wurde, war man seit vier Jahren am Verhandeln und hatte noch nicht einmal einen Vertragstext. Das war meine erste Priorität. Seit Dezember 2018 liegt er nun vor. Jetzt weiss man zumindest, worum es geht. Der Bundesrat ist noch nicht restlos überzeugt vom Inhalt, deshalb hat er eine Konsultation beschlossen. Heute kennen wir die drei umstrittenen Punkte, der Lohnschutz ist einer davon. Im Juni hat der Bundesrat entschieden, dass diese nun geklärt werden müssen.
Die Schweiz hat es verpasst, den Vertrag in der Ära Juncker abzuschliessen. Sie selber haben gesagt, er sei ein Freund der Schweiz.
Richtig! Aber für die Schweiz ist Qualität wichtiger als Tempo. Es kommt nicht darauf an, ob wir das Abkommen 2019 oder 2021 abschliessen. Wir müssen den Schritt machen, wenn er reif ist.
Oder die Schweiz wurstelt sich ohne Abkommen auf ewig durch?
Man kann über alles spekulieren. Der Bundesrat hat vor acht Jahren entschieden, den bilateralen Weg zu konsolidieren und auszubauen. Das Ziel ist klar. Ich bin froh und stolz, dass nun ein Text in drei Sprachen im Internet zu lesen ist. Vor einem Jahr gab es noch nichts.
Haben Sie schon einen Termin bei der neuen EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen?
Wir haben angefragt. Aber solange sie noch nicht im Amt ist, kann sie nicht antworten. Sie hätte am 1. November beginnen sollen, jetzt wird es 1. Dezember, vielleicht gar 1. Januar.
Ignazio Cassis kam 1961 in Sessa TI zur Welt. Der Mediziner wurde 2007 Nationalrat und präsidierte ab 2015 die FDP-Bundeshausfraktion. Am 20. September 2017 wählte ihn die Vereinigte Bundesversammlung in den Bundesrat. Er steht dem Aussendepartement (EDA) vor. Cassis ist verheiratet und wohnt in der Nähe von Lugano.
Ignazio Cassis kam 1961 in Sessa TI zur Welt. Der Mediziner wurde 2007 Nationalrat und präsidierte ab 2015 die FDP-Bundeshausfraktion. Am 20. September 2017 wählte ihn die Vereinigte Bundesversammlung in den Bundesrat. Er steht dem Aussendepartement (EDA) vor. Cassis ist verheiratet und wohnt in der Nähe von Lugano.