Die berühmte Frage des Historikers Leopold von Ranke «wie es eigentlich gewesen» wird heute ja nur noch mit ironischem Unterton gestellt. Zu Unrecht, solange wir die Frage nicht nur auf die Ereignisse beziehen, sondern auch auf deren Interpretation. Marignano – das ist die Geschichte der Schlacht, eingebettet in ihre geopolitischen Umstände. Aber Marignano ist auch die Geschichte seiner politischen Einordnung. In den 1890er-Jahren fand eine Rückbesinnung auf die Neutralität statt, man brauchte auch ein Narrativ für die ganze Schweiz – und musste dafür möglichst weit zurückgehen auf der Zeitachse, um die Verlierer im Sonderbundskrieg ihres Platzes in der nationalen Gemeinschaft zu versichern. Die Mythenbildung hatte ihren tieferen staatspolitischen Sinn – auch wenn die wissenschaftlichen Methoden manchmal etwas zweifelhaft waren. Das zeigt: Von der Standortabhängigkeit historischer Betrachtung kann es gar kein Entkommen geben. Was sogar von Ranke selber wusste, der an anderer Stelle schrieb: «Die Absicht eines Historikers hängt von seiner Ansicht ab.»
Gewiss: Die Schlacht von Marignano war eine zukunftsträchtige Weichenstellung. Die Niederlage markiert das Ende der eidgenössischen Grossmacht-Ambitionen. Aber wir haben die Rolle anderer Länder auf unserem langen Weg zur heutigen Neutralität etwas stark ausgeblendet. Mit Marignano begann nicht einfach die Neutralität, wie wir sie heute kennen. Nur schon das Konzept wäre im frühen 16. Jahrhundert völlig unverständlich gewesen. Auf Marignano folgte vielmehr 1516 der «Ewige Frieden» mit Frankreich, der unser Land für über 250 Jahre an den grossen Nachbarn im Westen band und diesen zuverlässig mit unseren Söldnern versorgte. Besonders neutral war das nicht ... Die Neutralität entsprach eben auch den geopolitischen Interessen der grossen Mächte, die der Schweiz 1815 zuerst am Wiener Kongress – und dann formell am Zweiten Pariser Kongress – den Status der «immerwährenden Neutralität» zugestanden und die Schweiz zudem dazu verpflichteten, diese Neutralität auch militärisch zu verteidigen.
Schliesslich war die religiöse Vielfalt der Schweiz ebenfalls ein entscheidender Faktor. Ohne «Stillesitzen» wäre die Eidgenossenschaft im Zeitalter der Religionskriege schlicht auseinandergerissen worden.
Das ist die wahre und grosse Leistung der Alten Eidgenossenschaft: Man hielt – allerdings in wechselnden, labilen Bündnissen – zusammen, trotz gewaltiger religiöser Fliehkräfte. So wie man später, während des Ersten Weltkriegs, zusammenhielt. Damals, als die sprachlich-kulturelle Verwandtschaft der Deutschschweiz beziehungsweise der Romandie zu den kriegsführenden Mächten das Land einer Zerreissprobe aussetzten.
Wer einen Blick zurückwirft, kommt zum Schluss, dass die Überzeugung, dass wir alles aus freiem Willen, aus eigener Kraft und ohne jede Fremdeinwirkung geschafft haben, gar nicht notwendig ist. Sie verdeckt nur die Sicht auf eine Realität, auf die wir durchaus stolz sein können: Nämlich dass wir uns als Kleinstaat durch all diese Jahrhunderte behauptet haben – und zwar in einem permanenten Wechselspiel von Abgrenzung und Verflechtung mit unseren Nachbarn in Europa. Daran hat sich bis heute nichts geändert – hier zeigt sich durchaus eine Kontinuität in unserer Geschichte. Damals wie heute beruht unsere Stärke auf dem Bewusstsein, dass unser Land dann am stärksten ist, wenn es sich weder über- noch unterschätzt. Denn auch das ist eine Lektion von Marignano: Man muss die eigene Macht realistisch einschätzen. Je kleiner der Staat, desto klüger muss seine politische und wirtschaftspolitische Strategie sein. Nur so kann er die nationalen Interessen wahrnehmen und schützen: unsere Freiheit, unsere Grundwerte, unsere Institutionen, unseren Wohlstand und unsere kulturelle Vielfalt.
Wir brauchen Mythen – aber Mythen reichen nicht: Die erfolgreiche Schweiz kann und sollte es sich leisten, die Grenzen zwischen Fakten und Fiktionen in grosser Gelassenheit zu diskutieren. Und die Reflexe durch Reflexionen zu ersetzen.
Jubiläen sind immer gute Anlässe für nationale Selbstgespräche. Für die Schweiz sind diese besonders wichtig, denn es ist unsere Kultur, unsere Geschichte, die uns zu dem macht, was wir sind. Oder vielmehr zu dem, was wir immer wieder aufs Neue werden. Ja, die Schweiz ist ein Sonderfall, weil sie sich immer wieder selbst entdecken und erfinden muss. So – und nur so – konstituiert sich unsere Identität und unser innerer Zusammenhalt. Die einschlägigen Attribute einer Nation fehlen uns bekanntlich: eine gemeinsame Sprache, eine gemeinsame Religion, eine Hauptstadt, die kulturelle Homogenisierung betreibt.
Gerade wegen unserer Vielfältigkeit brauchen wir starke Erzählungen. Diese müssen auch in ihrem symbolischen, mythischen Gehalt ernst genommen werden, solange das «Vetorecht der historischen Quellen» nicht missachtet wird, wie der deutsche Historiker Reinhart Koselleck einst formulierte.
Ich plädiere für Realismus und Gelassenheit, auch und gerade im Umgang mit unserer eigenen Geschichte. Die Verabsolutierung von Ereignissen greift ebenso ins Leere wie der Versuch ihrer totalen Dekonstruktion.
Die Geschichte der heutigen vielfältigen und erfolgreichen Schweiz ist nicht nur, aber vor allem die Geschichte der Institutionen, die uns seit dem 19. Jahrhundert zusammenhalten. Man denke nur an das Initiativ- und Referendumsrecht oder das Proporzwahlrecht. Oder auch an Gewaltentrennung und Meinungsfreiheit – ohne solche Errungenschaften könnten wir alle heute diese Debatte gar nicht führen. Und nicht zuletzt ist auch die Mehrsprachigkeit als identitätsstiftendes Merkmal unserer Nation erst 1815, also vor 200 Jahren, entstanden.
Auch daran sollten wir uns im Jubiläumsjahr 2015 erinnern. Diese historischen Wahrheiten brauchen sich nun wirklich nicht zu verstecken – vielmehr stehen sie für unsere grössten historischen Leistungen.
Heute befinden wir uns in einer geopolitischen und wirtschaftlichen Situation, die wahrscheinlich so offen ist wie nie seit der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Das ist beunruhigend – und es ist deshalb völlig verständlich und legitim, dass man mittels Geschichtspolitik versucht, sich seiner selbst zu vergewissern.
Aber diese Offenheit unserer Gegenwart ist nicht nur Bedrohung, sie ist auch eine Chance. Die Zeit ist gekommen, einen genaueren Blick auf unsere Geschichte zu wagen. Der moderne Bundesstaat baut auf der Alten Eidgenossenschaft auf. Man denke nur an die föderalistische und kommunalistische Tradition. Deshalb funktioniert die heutige Schweiz in vielen Politikbereichen von unten nach oben – und nicht umgekehrt, wie in anderen Ländern. Aber das entscheidende halbe Jahrhundert zwischen 1798 und 1848 – also der Weg zur modernen Schweiz – war trotzdem keineswegs eine lineare Weiterentwicklung der Alten Eidgenossenschaft. Sondern eine «einzige Kette von Revolutionen und Konterrevolutionen, von Freischarenzügen und massiver ausländischer Intervention», wie der Berner Historiker André Holenstein schreibt.
Wir brauchen ein realistisches Selbst- und Geschichtsbild: Angesichts der unübersichtlichen weltpolitischen Situation gilt heute noch stärker als im 20. Jahrhundert: Wir brauchen als Kleinstaat intelligente Strategien, wir müssen – wie es ja auch unsere erfolgreiche Wirtschaft tut – in Szenarien und Handlungsmöglichkeiten denken. Aber natürlich, ohne dabei unsere Identität und unsere Institutionen zu gefährden. Deshalb ist das Jubiläumsjahr eine Chance, um wirklich zu verstehen, wie wir zu dem wurden, was wir sind.
Wir haben mehr als eine mögliche Sicht auf die Vergangenheit – und wir haben auch mehr als eine mögliche Zukunft. Wie sagte doch Winston Churchill: «Wenn wir einen Streit zwischen Vergangenheit und Gegenwart anzetteln, verlieren wir unsere Zukunft.»
Für die Schweiz gilt das in besonderem Masse. Denn wir sind eine Willensnation – aber wir sind auch eine Erinnerungsnation.