Bundesrätin Karin Keller-Sutter (55) ist derzeit viel unterwegs. Am Dienstag weilte sie am Treffen der europäischen Innen- und Justizminister, am Freitag ist sie in den Vatikan aufgebrochen, um an der Heiligsprechung der Schweizerin Marguerite Bays teilzunehmen. BLICK konnte sie kurz vor der Abreise nach Rom in ihrem Büro treffen – wo ein grosses Bild die Wand ziert: «Auf dem Acker» des Luzerner Malers Franz Elmiger (1882–1934) zeigt eine Bauersfrau vor dem Ochsenkarren. Keller-Sutter, deren Grosseltern noch Bauern waren, erinnert es daran, woher sie kommt und wie weit es Schweizer Frauen in den letzten 100 Jahren gebracht haben – bis ins Bundesratszimmer nämlich.
BLICK: Frau Keller-Sutter, Sie werden am Sonntag an der Heiligsprechung der Freiburgerin Marguerite Bays teilnehmen. Warum?
Karin Keller-Sutter: Dass Schweizer Persönlichkeiten heiliggesprochen werden, kommt nicht oft vor: Nach Niklaus von Flüe und Schwester Bernarda ist Marguerite erst die dritte, der diese Ehre zuteil wird. Daher schickt der Bundesrat eine offizielle Vertretung. Und ich freue mich sehr, dass ich das bin.
Wieso?
Es ist eine spezielle Heiligsprechung. Marguerite war keine Nonne, sondern eine einfache Frau aus dem Volk, eine Bauerntochter, die ihr Leben Gott gewidmet und sich sehr für andere eingesetzt hat. Sie war sozusagen eine Heldin des Alltags. Das hat mich als Katholikin angesprochen. Die Heiligsprechung von Marguerite ist auch eine Anerkennung für die Frauen in der Kirche.
Weiblich. Und weltlich. Gleich zwei Eigenschaften erschwerten es Marguerite Bays (1815–1879), heiliggesprochen zu werden. Als die gelernte Schneiderin vor gut 200 Jahren im Weiler La Pierraz im Kanton Freiburg geboren wurde, sprach die Kirche noch lieber Könige und Kirchenmänner zu Heiligen.
Doch Bays Biografie passt: Noch keine 40 Jahre alt ist sie, als sie an Darmkrebs erkrankt – und urplötzlich gesundet. Jeden Freitag zeigen sich von da an angeblich die Wundmale Christi an ihren Händen. Bays tritt in eine Laiengemeinschaft des Franziskanerordens ein, kümmert sich um Kinder, Arme, Kranke und Sterbende. Der Diözesanbischof lässt ihre Stigmata 1973 ärztlich untersuchen, sie bleiben unerklärlich.
Schon als Bays stirbt, wird sie wie eine Heilige verehrt. Ihr Haus in La Pierraz und die Gemeinde Siviriez, wo sie starb, sind heute beliebte Pilgerorte. Am Sonntag wird sie in Rom heiliggesprochen.
Weiblich. Und weltlich. Gleich zwei Eigenschaften erschwerten es Marguerite Bays (1815–1879), heiliggesprochen zu werden. Als die gelernte Schneiderin vor gut 200 Jahren im Weiler La Pierraz im Kanton Freiburg geboren wurde, sprach die Kirche noch lieber Könige und Kirchenmänner zu Heiligen.
Doch Bays Biografie passt: Noch keine 40 Jahre alt ist sie, als sie an Darmkrebs erkrankt – und urplötzlich gesundet. Jeden Freitag zeigen sich von da an angeblich die Wundmale Christi an ihren Händen. Bays tritt in eine Laiengemeinschaft des Franziskanerordens ein, kümmert sich um Kinder, Arme, Kranke und Sterbende. Der Diözesanbischof lässt ihre Stigmata 1973 ärztlich untersuchen, sie bleiben unerklärlich.
Schon als Bays stirbt, wird sie wie eine Heilige verehrt. Ihr Haus in La Pierraz und die Gemeinde Siviriez, wo sie starb, sind heute beliebte Pilgerorte. Am Sonntag wird sie in Rom heiliggesprochen.
Dann gehören Sie zum fortschrittlichen Flügel der Kirche?
Die Stellung der Frauen in der Kirche ist mir sehr wichtig. Ich war deshalb enttäuscht, dass Pilgerinnen, die unter dem Motto «Frauen in der Kirche» nach Rom reisten, dort nicht empfangen wurden. Das ist 2016 zwei St. Gallerinnen so ergangen. Aber mich beeindruckt das gesellschaftliche Engagement der Landeskirchen für Kinder, für Betagte und Kranke sehr.
Sie werden in Rom den Papst treffen. Was wollen Sie mit ihm besprechen?
Ich habe aus anderen Departementen, aber auch von Bekannten eine riesige Themenliste bekommen. Ich weiss aber noch nicht, ob es Gelegenheit gibt, etwas zu vertiefen. Dieser Papst macht mir persönlich Hoffnung. Auch wenn er nicht alles in der Kirche verändern kann, so beeindruckt es mich doch, wie er das Pontifikat ausübt und wie er mit seiner lebenswirklichen Art auf Menschen zugeht. Ich finde es wichtig, ihm dafür und auch für die Heiligsprechung von Marguerite Bays zu danken.
Die Reise nach Rom werden Sie auch politisch nutzen. Sie treffen die italienische Innenministerin Luciana Lamorgese. Was wollen Sie mit ihr besprechen?
Italien ist in Migrationsfragen unser wichtigster Partner. Unsere Zusammenarbeit hat sich in den letzten Jahren stark verbessert. Vor dem Hintergrund, dass die Schengen-Innenminister am Dienstag das sogenannte Malta-Papier verworfen haben – mit der Schweiz unter anderem auch Staaten wie Schweden, die Niederlande und Norwegen –, ist es mir ein Anliegen, die Zusammenarbeit mit Italien weiter zu vertiefen.
Das Malta-Papier wollte, dass andere Staaten Migranten aus dem zentralen Mittelmeer übernehmen. Italien ist vom Nein enttäuscht.
Ich habe mit den Italienern am Treffen in Luxemburg nicht gesprochen. Dafür aber mit dem deutschen Innenminister Horst Seehofer, der das Papier massgeblich mitgestaltet hat. Er hat unsere Kritik am Vorschlag verstanden. Denn eines muss man festhalten: Italien steckt nicht in einer Migrationskrise. 2015, als Hunderttausende nach Europa strömten, war das anders. Doch in einer solchen Situation sind wir heute nicht. In Italien landeten dieses Jahr bis Anfang Oktober knapp 8000 Migranten an. In Griechenland waren es im gleichen Zeitraum fast 50'000. Da können wir für Italien nicht das Dublin-System aushebeln!
Dann haben wir es aber mit Politikversagen zu tun. Europa hatte jetzt drei Jahre lang ein Zeitfenster ohne nennenswerte Migration, um Dublin zu reformieren.
Absolut einverstanden. Die Dublin-Reform ist seit Jahren ein Thema in der EU. 2015 war Europa total überfordert von den Migrationsströmen. Heute muss man leider feststellen: Europa hat aus dieser Krise nichts gelernt. Was passiert, wenn die Türkei das Migrationsabkommen mit der EU aufkündigt und es zu einer neuen Krise käme? Europa wäre heute nicht darauf vorbereitet.
In der sogenannten Dublin-Verordnung haben sich die europäischen Staaten darauf geeinigt, wer für Asylgesuche zuständig ist. Die Regel lautet: Jenes Land, in dem das erste Asylgesuch gestellt wurde, ist für das Verfahren zuständig – also für Prüfung, Entscheid, Integration oder Rückschaffung.
Auch die Schweiz ist Mitglied der Dublin-Staaten. Bei jedem Asylgesuch prüft die Schweiz, ob sie oder doch ein anderer Staat zuständig ist. Wir profitieren vom System, weil wir als Dublin-Binnenland mehr Asylsuchende in die Länder an den Aussengrenzen zurückschicken können.
Die Bürde dafür tragen Länder wie Italien, Griechenland, Spanien und Malta. Sie müssen die Flüchtlinge aufnehmen und die Verfahren durchführen. Ist der Ansturm gross, sind sie damit heillos überfordert. Das heisst: Dublin funktioniert nicht.
Reform lässt auf sich warten
Daher will die EU das Dublin-System seit Jahren reformieren – wirklich vorwärts geht es aber nicht. Der letzte Versuch scheiterte am Dienstag bei einem Treffen der EU-Innen- und Justizminister, an dem auch Bundesrätin Karin Keller-Sutter (55) teilnahm. Das sogenannte Malta-Papier sollte Italien und Malta entlasten, indem andere europäische Staaten Bootsflüchtlinge aus dem Mittelmeer aufnehmen. Deutschland – neben Frankreich einer der Haupttreiber hinter dem Vorschlag – hatte bereits zugesagt, ein Viertel der Asylsuchenden aufzunehmen.
Die Idee fand aber zu wenig Zustimmung bei den anderen Ländern – und ist darum jetzt vom Tisch. Auch die Schweiz hatte sich gegen das Malta-Papier ausgesprochen.
Sermîn Faki
In der sogenannten Dublin-Verordnung haben sich die europäischen Staaten darauf geeinigt, wer für Asylgesuche zuständig ist. Die Regel lautet: Jenes Land, in dem das erste Asylgesuch gestellt wurde, ist für das Verfahren zuständig – also für Prüfung, Entscheid, Integration oder Rückschaffung.
Auch die Schweiz ist Mitglied der Dublin-Staaten. Bei jedem Asylgesuch prüft die Schweiz, ob sie oder doch ein anderer Staat zuständig ist. Wir profitieren vom System, weil wir als Dublin-Binnenland mehr Asylsuchende in die Länder an den Aussengrenzen zurückschicken können.
Die Bürde dafür tragen Länder wie Italien, Griechenland, Spanien und Malta. Sie müssen die Flüchtlinge aufnehmen und die Verfahren durchführen. Ist der Ansturm gross, sind sie damit heillos überfordert. Das heisst: Dublin funktioniert nicht.
Reform lässt auf sich warten
Daher will die EU das Dublin-System seit Jahren reformieren – wirklich vorwärts geht es aber nicht. Der letzte Versuch scheiterte am Dienstag bei einem Treffen der EU-Innen- und Justizminister, an dem auch Bundesrätin Karin Keller-Sutter (55) teilnahm. Das sogenannte Malta-Papier sollte Italien und Malta entlasten, indem andere europäische Staaten Bootsflüchtlinge aus dem Mittelmeer aufnehmen. Deutschland – neben Frankreich einer der Haupttreiber hinter dem Vorschlag – hatte bereits zugesagt, ein Viertel der Asylsuchenden aufzunehmen.
Die Idee fand aber zu wenig Zustimmung bei den anderen Ländern – und ist darum jetzt vom Tisch. Auch die Schweiz hatte sich gegen das Malta-Papier ausgesprochen.
Sermîn Faki
Diese Woche ist die Türkei in Syrien einmarschiert. Müssen wir uns auf eine neue Migrationswelle einstellen?
Ich verurteile diese militärische Offensive klar. Und trotzdem darf man sich nichts vormachen: Sollte das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei dahinfallen, müsste Europa mit einer Migrationswelle rechnen. Ich habe am Innenministertreffen aber den festen Willen gespürt, das Abkommen zu erneuern. Soweit ich weiss, sind die EU-Staaten daran, das aufzugleisen. Die andere Frage ist, wie man Griechenland unterstützen kann – denn dort ist die Lage prekär.
Dabei hat die EU doch schon Millionen nach Griechenland geschickt.
Dennoch hat sich die Situation nicht verbessert. Griechenland ist überfordert. Norwegen und die Schweiz haben schon früh Spezialisten entsandt, um Griechenland zu unterstützen. Und die Schweiz ist auch bereit, die Zusammenarbeit zu intensivieren. Denn wir profitieren, wenn wir Griechenland unterstützen.
Das ist Pflästerli-Politik! Eine echte Dublin-Reform ist nicht in Sicht.
Eines ist klar: Die Schweiz will eine echte Reform mit einem dauerhaften Verteilmechanismus, einem wirksamen Schutz der Aussengrenzen und einer gemeinsamen Rückführungspolitik. Nach meinem Gespräch mit Horst Seehofer setze ich meine Hoffnung in die neue Kommission unter Ursula von der Leyen. Sie setzt die Migrationspolitik zuoberst auf die Traktandenliste. Zudem präsidiert Deutschland in der zweiten Hälfte des nächsten Jahres den Rat der EU. Und wenn jemand eine Dublin-Reform durchziehen kann, dann die Deutschen.
Kommen wir noch einmal auf Syrien zu sprechen. Was viele umtreibt, sind die kurdischen Lager, in denen Tausende Dschihadisten festgehalten werden. Was, wenn die sich in den Kriegswirren befreien können?
Auch darüber habe ich diese Woche mit meinen EU-Kollegen gesprochen. Diese Gefahr besteht natürlich. Und die Vorstellung, dass der IS in Syrien und Irak unschädlich gemacht wurde, ist eine Illusion. Die Dschihadisten sind weiterhin kampfbereit.
Wie schützt der Bundesrat dann die Bevölkerung vor Anschlägen?
In der Terrorbekämpfung arbeiten wir international zusammen. Diese Kämpfer sind zur Fahndung ausgeschrieben. Sie würden verhaftet, wenn man sie aufgreift. Und natürlich arbeiten auch die Nachrichtendienste zusammen. Zudem trifft jeder Staat selbst Massnahmen, um zu verhindern, dass Dschihadisten unkontrolliert zurückreisen können.
Unabhängig von der aktuellen Situation: Gibt es Pläne, was langfristig mit Dschihad-Reisenden passieren soll?
Es herrscht Konsens, dass die Leute vor Ort vor Gericht gestellt werden sollen. Frankreich und andere Staaten verhandeln dazu mit dem Irak über einen internationalen Dschihad-Gerichtshof. Die Prozesse würden also im Irak geführt, und die Verurteilten würden auch ihre Strafe dort absitzen. Ob das zustande kommt, ist aber noch offen.
Ein Teil der Dschihadisten hat europäische Pässe. Was spricht für einen Prozess im Irak?
Würde man sie in Frankreich, in der Schweiz oder in den Niederlanden vor Gericht stellen, könnten sie allenfalls wegen Unterstützung und Zugehörigkeit zu einer terroristischen Organisation verurteilt werden. Dann drohen milde Strafen, allenfalls sogar Freisprüche, weil es nahezu unmöglich wäre, ihnen von hier aus die Teilnahme an Kampfhandlungen und Verbrechen zu beweisen. Die Beweiserhebung und Beweisführung sind vor Ort einfacher.
Karin Keller-Sutter (55) ist die Bundesrätin par excellence. Kaum ein Jahr im Amt, gilt sie in der Bevölkerung als Einflussreichste im Siebnergremium. Verwundern kann das nicht: Als Regierungsrätin ihres Heimatkantons St. Gallen kann sie Exekutiverfahrung vorweisen, als Ständerätin kennt die Freisinnige die Mechanismen im Bundeshaus. Die gelernte Dolmetscherin gilt zudem als absolut dossierfest. Keller-Sutter lebt mit ihrem Mann Morten Keller in Wil SG.
Karin Keller-Sutter (55) ist die Bundesrätin par excellence. Kaum ein Jahr im Amt, gilt sie in der Bevölkerung als Einflussreichste im Siebnergremium. Verwundern kann das nicht: Als Regierungsrätin ihres Heimatkantons St. Gallen kann sie Exekutiverfahrung vorweisen, als Ständerätin kennt die Freisinnige die Mechanismen im Bundeshaus. Die gelernte Dolmetscherin gilt zudem als absolut dossierfest. Keller-Sutter lebt mit ihrem Mann Morten Keller in Wil SG.
Unter den Gefangenen sind fünf Kinder mit Schweizer Pass. Ist es richtig, diese der Gefahr eines Kriegs auszusetzen?
Erstens: Dieser Gefahr ausgesetzt hat sie nicht die Schweiz. Es waren die Eltern, die sie ins Kriegsgebiet verschleppt haben. Zweitens hat der Bundesrat immer gesagt, dass er bereit ist, Kinder zurückzunehmen. Massgebend ist das Kindswohl. Das hat der Bundesrat im März beschlossen. Unsere europäischen Nachbarstaaten verfolgen die gleiche Politik.
Das bedeutet, dass die Schweiz diese Kinder zurücknimmt?
Unter dem Lead des EDA wird jeder Fall einzeln geprüft. Andere Staaten, die als Vorbild genannt werden, haben nach unserem Wissen bisher nur Waisenkinder zurückgeholt. Aus gutem Grund, denn alles andere ist rechtlich und logistisch schwierig. Manche Mütter wollen ihre Kinder nur freigeben, wenn sie selbst auch zurückkehren können. Damit machen sie ihre Kinder zum Pfand. Auf der anderen Seite wären natürlich auch die Kurden die Dschihadisten gerne los. Sie geben die Kinder nur her, wenn die Herkunftsländer auch die Eltern nehmen. Das macht die Angelegenheit relativ komplex.
Zum Schluss etwas ganz anderes: Noch kein Jahr im Amt, gelten Sie als Einflussreichte im Bundesrat. Freut Sie das Vertrauen der Bevölkerung?
Ich freue mich über das Ergebnis, aber es ist immer auch eine Momentaufnahme. Das Ergebnis ist für mich zudem ein Ansporn, mich weiterhin nach Kräften für unser Land einzusetzen.