Als er aus dem Lift in die Wandelhalle trat, holte er ganz tief Luft. Wenige Augenblicke zuvor war er glänzend mit 230 von 243 Stimmen gewählt worden; jetzt stand er nur noch wenige Schritte vom Rednerpult im Nationalratssaal entfernt. Walter Thurnherr war vor der Annahme seiner Wahl sichtlich nervös.
Zwei Tage nach diesem denkwürdigen Moment sagt der 52-Jährige: «Ich habe mich über die deutliche Wahl natürlich sehr gefreut.» Und er sei halt im Parlament noch nie ganz vorn am Pult gestanden.Man spürte es bei seiner kurzen, aber sympathischen Rede, in der er nicht viel mehr sagte als: «Ich werde mir alle Mühe geben.»
National- und Ständeräte lachten und applaudierten dem heimlichen Star der Bundesratswahlen. Thurnherr war schon im Vorfeld so unbestritten, dass es keine Gegenkandidaten gab. Selbst die SP liess eine geplante Kandidatur versanden.
Der Aargauer ist in der Bundesverwaltung einer der erfahrensten Chefbeamten. Er machte als Botschafter Karriere und diente den CVP-Bundesräten Joseph Deiss und Doris Leuthard als Generalsekretär im Aussen-, Wirtschafts- und Umweltdepartement. Von ihm erhoffen sich nun viele Parlamentarier mehr Durchsetzungskraft: Die abtretende Corina Casanova war extrem zurückhaltend, hat kaum sichtbare Spuren hinterlassen.
Thurnherr kann zwar im Bundesrat nicht mitentscheiden, sieht aber als Stabsleiter des Bundes Optimierungspotenzial. Als Bundeskanzler leitet er neu die Generalsekretärenkonferenz, das oberste Steuerungsorgan der Verwaltung, wie er erklärt. Dieser Konferenz will er mehr Gewicht geben. «Hier kann man gute Projekte befördern und abstruse Ideen schneller begraben.» In einer grossen Verwaltung seien – gemessen am gesunden Menschenverstand – nicht alle Ideen die effizientesten.
Diese Aussagen sind nicht Ausdruck einer Staatsskepsis, vielmehr ein Resultat von Thurnherrs Ehrgeiz. «Grundsätzlich arbeitet unsere Verwaltung sehr gut», stellt er schnell klar. «Und wer dies nicht glaubt, kann einmal in Italien oder anderswo in die Verwaltung telefonieren und schauen, wann man ihn zurückruft.»
Auch beim Dossier E-Voting will Thurnherr vorwärtsmachen und setzt dabei auf Pragmatismus: «Wenn man ein todsicheres E-Voting einführen will, sollte man es sein lassen, denn ein todsicheres E-Voting dürfte es nie geben.» Auch das Postgeheimnis sei ja nicht völlig sicher, trotzdem habe man die briefliche Stimmabgabe eingeführt. Das E-Voting müsse einfach so gesichert sein, «dass der Aufwand für Fälschungen unverhältnismässig gross wird».
In anderen Bereichen will der neue Kanzler sehr behutsam vorgehen. So möchte er die Volksrechte trotz einer Flut von Initiativen nicht antasten. «Ich wäre vorsichtig, wenn es um die Frage der Erhöhung der Unterschriftenzahl geht.» Man solle das Thema mit Umsicht angehen und nicht vorschnell «von oben» verordnen. Volksrechte seien ein wertvolles Instrument. «Die Politik ist besser abgestützt, wenn die Bürgerinnen und Bürger sich regelmässig äussern können.»
Bei seinen Mitarbeitern ist Thurnherr restriktiver. Er hat es gerne effizient und schnörkellos. Sitzungen dürfen beim CVP-Mann nur in Ausnahmefällen mehr als eine Stunde dauern. Adjektive in Verwaltungsberichten sind unerwünscht: «Auf die meisten Wertungen, die so entstehen, kann man verzichten, ohne dass etwas verloren geht. Im Gegenteil.»
Auch in Zukunft will Thurnherr nicht auf Sport verzichten. Das sei als Ausgleich «recht wichtig». Allerdings: «Jeden Mittwoch über Mittag gehen wir mit Kolleginnen und Kollegen aus mehreren Departementen die Aare entlang joggen.» Dafür hat er künftig keine Zeit mehr – mittwochs wird er nach der Sitzung mit den Bundesräten zu Mittag essen.
Der CVP-Mann freut sich auf die Bundesratssitzungen. Aber nicht etwa, weil er da eine ruhige Kugel schieben kann. Auch wenn es früher schon mal mehr «gefetzt» habe: Der aktuelle Bundesrat sei kein Wohlfühlgremium, sagt Thurnherr. «Man steht sich zwischendurch auf die Füsse. Und das soll auch so sein.» Auch der neue Bundeskanzler wird wohl künftig das eine oder andere Mal seinen Fuss einsetzen.