Bundeskanzler Thurnherr plaudert aus dem Nähkästchen
«Je länger die Krise dauert, desto gereizter wird die Stimmung»

Bundeskanzler Walter Thurnherr ist der Stabschef des Bundesrates. Seine Macht ist beschränkt, doch er blickt hinter die Kulissen und ist bestens über die Vorgänge in der Regierung informiert. Jetzt plaudert einer der höchsten Schweizer aus dem Nähkästchen zur Krise.
Publiziert: 14.09.2020 um 04:53 Uhr
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Aktualisiert: 14.09.2020 um 07:17 Uhr
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Bundeskanzler Walter Thurnherr ist einer der höchsten Schweizer.
Foto: Keystone

Im Gespräch mit den Zeitungen von «CH Media» äussert Bundeskanzler Walter Thurnherr (57) bekannte und auch weniger bekannte Einsichten in das Innenleben des Bundesrates. Der Bundeskanzler unterstützt und berät die Landesregierung. Wohl auch in ihrem Namen lobt er die Bevölkerung und Wirtschaft für ihren Umgang mit der Viruskrise. Doch es gebe Handlungsbedarf. Je länger die Krise dauere, desto gereizter werde die Stimmung im Land.

Die Krise habe auch einschneidende Konsequenzen für den Alltag des Bundesrates, so Thurnherr. Auf dem Höhepunkt der Krise hielten die Bundesräte fünf Sitzungen in acht Tagen ab. Und im Bundesberner Vorzimmer, wo sonst «etwas eng um einen Tisch» gesessen werde, gebe es keine gemeinsame Kaffeepause mehr. Sitzungen werden regelmässig unterbrochen, um zu lüften.

Mindestens vier Bundesräte hätten sich bislang auf das Virus testen lassen. Thurnherr bestätigt allein, dass der Test von Gesundheitsminister Alain Berset (48) negativ ausgefallen sei.

Weniger Konflikte im Bundesrat

Thurnherr hofft darauf, dass «wir mit einem Impfstoff sehr schnell zum ‹normalen Leben› zurückkehren können». Ohne Impfmittel könne die Situation noch «jahrelang mehr oder weniger so weitergehen». Ob die Bevölkerung die Geduld dazu hat, bezweifelt er offenbar. Man habe diese «Krise, die sich unerbittlich in die Länge zieht. Und je länger sie dauert, desto gereizter wird die Stimmung.»

Im Volk würden «Unwillen und Frustration» herrschen, aber auch «bewusst geschürte Missverständnisse». So sei es schlicht falsch, dass das Epidemiengesetz Impfzwang vorschreibe. Auch die angebliche Behauptung von Corona-Skeptikern, dass der Bundesrat wie im Zweiten Weltkrieg das Notrecht verlängern wolle: Viele Notverordnungen sollen bereits auslaufen. Die meisten seien im Übrigen «Kompetenzen, um besonders Betroffene zu unterstützen».

Irgendwie habe die Krise auch den Bundesrat stärker zusammengeführt, sagt Thurnherr: «Die unnötigen Rivalitäten und Händel um Kleinigkeiten haben in den letzten Monaten etwas abgenommen. Dafür hatte man schlicht keine Zeit mehr.»

Nationaler Zusammenhalt gefährdet

Schweizer würden sich auch in dieser Krise als eigenwillig erweisen: Das Land liesse sich auch in dieser Krise nur schwer «führen». Es sei eher so, dass die «Schweizerinnen und Schweizer sich selbst zu führen begannen». Die Bevölkerung würde sich untereinander organisieren. Der Bundesrat ordne auch nicht an, er empfehle oder ruft auf.

Die Krise zeige, wie gut Milizgesellschaft und Politik zusammenarbeiten. Es entspreche Schweizern nicht, «dass die Politik allein für die Lösung aller Probleme sorgt». Dabei würden sich auch eine solide Wirtschaft, ein Gesundheitswesen auf hohem Niveau, keine zu grossen sozialen Ungleichheiten, gute Instrumente der Arbeitslosenversicherung und gute Schulbildung als hilfreich erweisen: «Wie wir durch eine Krise kommen, hängt sehr stark vom Zustand ab, den wir erreicht haben, bevor wir in die Krise schlitterten.»

Nachholbedarf herrsche bei der digitalen Datenbearbeitung, so Thurnherr. Auch müssten die verschiedenen Sprachregionen des Landes aufpassen, dass sie «sich nicht friedlich auseinanderleben»: «Wenn wir zum nationalen Zusammenhalt nicht Sorge tragen, werden wir das in der nächsten oder übernächsten Krise spüren.» (kes)


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