Knapp 40'000 Asylgesuche wurden letztes Jahr in der Schweiz gestellt. Und auch für dieses Jahr rechnete das zuständige Staatssekretariat für Migration (SEM) von SP-Justizministerin Simonetta Sommaruga lange Zeit mit ähnlichen Zahlen. SVP-Finanzminister Ueli Maurer budgetierte für seine Finanzplanung gar 45'000 Gesuche.
Doch jetzt korrigiert das SEM seine Prognose – und zwar nach unten! «Als wahrscheinlichstes Szenario rechnen wir mit einem Total von rund 30'000 Asylgesuchen», sagt Sprecherin Léa Wertheimer zu BLICK. Ganz Entwarnung möchte Wertheimer aber nicht geben: «Wir halten Entwicklungen mit bis zu 41'000 Asylgesuchen nach wie vor für denkbar.»
Doch für das 30'000-Asylgesuche-Szenario gibt es gewichtige Gründe.
> Geschlossene Balkan-Route: Der Hauptgrund für die tiefere Prognose ist die praktisch geschlossene Balkan-Route. Letztes Jahr kamen vor allem in der zweiten Jahreshälfte Tausende Flüchtlinge via Balkan-Route in die Schweiz. Das wird sich dieses Jahr kaum mehr zu wiederholen – der Zustrom ist praktisch versiegt.
«Wie sich die Lage auf dem Balkan entwickelt ist schwierig zu prognostizieren. Heute ist die Balkan-Route faktisch blockiert», sagt Wertheimer. Doch sie hebt auch gleich den Warnfinger: «Die grosse Unbekannte bleibt die Türkei. Sollte das Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei nicht mehr zur Anwendung kommen, kann sich die Situation auch rasch wieder ändern.»
> Bessere Registrierung: Ein weiterer Grund ist die verbesserte Registrierung von Flüchtlingen in Italien. So landeten in diesem Jahr zwar etwa gleich viele Flüchtlinge über die zentrale Mittelmeerroute in Europa, doch mehr Migranten stellen bereits in Italien ein Asylgesuch oder lassen sich registrieren. Damit greift auch das Dublin-Abkommen, wonach Flüchtlinge im Erstankunftsland ein Asylgesuch stellen sollten.
Die Folge für die Schweiz: Die hiesigen Grenzwächter greifen an der Südgrenze derzeit zwar mehr illegale Migranten auf, weisen im Rahmen des Rückübernahmeabkommens aber auch mehr zurück, wenn sie hier kein Asylgesuch stellen wollen.
> Weniger Eritreer: Kommt schliesslich hinzu, dass auch deutlich weniger Eritreer in der Schweiz ein Asylgesuch stellen als noch letztes Jahr. Einerseits gelangten viel weniger Eritreer als noch letztes Jahr über die Mittelmeerroute nach Europa – die Zahl hat sich in etwa halbiert. Andererseits reichen viel mehr von ihnen bereits in Italien ein Asylgesuch ein – 2015 waren es erst fünf Prozent, dieses Jahr bereits ein Drittel – oder wollen weiter nach Deutschland oder Nordeuropa ziehen. Die Schweiz als Zielland hat offenbar an Attraktivität verloren. «Die Eritreer sind sich bewusst, dass wir das Dublin-Verfahren konsequent anwenden», sagt Wertheimer.
Bis Juli 17'000 Gesuche
Jedenfalls wurden in den ersten sieben Monaten dieses Jahres in der Schweiz knapp 17'000 Gesuche eingereicht. Das sind zwar etwa 1000 mehr als in der Vergleichsperiode des Vorjahres. Doch während letztes Jahr die Zahlen in der zweiten Jahreshälfte wegen der offenen Balkanroute weiter anstiegen – mit gegen 6000 Gesuchen im November – rechnet man nun mit einem «normalen Verlauf».
Das heisst: «Üblicherweise nimmt die Zahl der Asylgesuche im Frühling zu, um im Herbst wieder zu sinken. In den Wintermonaten ist das Mittelmeer rau und die Überfahrten nach Italien kaum mehr möglich», erklärt Wertheimer. «Deshalb erwarten wir aktuell, dass die Zahlen im Herbst wieder sinken.»
«Weiterhin angespannte Situation»
Aber eben, es gibt verschiedenste Variablen, die auch diese Prognose wieder auf den Kopf stellen könnten. Vom Flüchtlingsdeal zwischen der Türkei und der EU über die «weiterhin angespannte Situation rund um die Migrationsroute von Norditalien in Richtung Südschweiz».
Es könne deshalb nicht von einer Beruhigung der Situation gesprochen werden, betont Wertheimer und macht klar: «Bund und Kantone müssen die vorsorglichen Arbeiten für den Fall einer Verschlechterung der Situation fortführen.»