Wochenlang haben sie sich ein Fernduell über die Schlacht bei Marignano geliefert (BLICK berichtete): Geschichtsprofessor Thomas Maissen (52) und SVP-Vordenker Christoph Blocher (74). Gestern Abend führte BLICK die beiden Widersacher im Hotel Bellevue in Bern zusammen. 90 Minuten lang ging es heftig zur Sache. Am Ende hatte Maissen aber hauchdünn die Nase vorn. Hier die wichtigsten Entscheidungen:
Blocher bekennt sich zu den Fakten ...
Kaum ist das Streitgespräch eröffnet, geht schon der erste Paukenschlag nieder. «Nein», ruft alt Bundesrat Christoph Blocher, «so ein Idiot war ich nie!» Moderator Hannes Britschgi unterstellte Blocher, dass er vor 50 Jahren behauptet hätte, die Niederlage in der Schlacht bei Marignano sei die Geburtsstunde der Neutralität gewesen. Klare Antwort also von Blocher, der sich überhaupt immer sehr deutlich zu den historischen Tatsachen bekennt.
Punkt für Blocher
... und verteidigt den Zweck von Mythen
Trotz der Faktenbasis: Blocher versteht es meisterhaft, den Sinn und die Bedeutung von Mythen für die Schweiz herauszuschälen. Blochers Position ist einleuchtend: Dass sich eine Geschichte real nicht ereignet hat, heisst nicht, dass man aus ihr keine Lehren ziehen kann. Maissen ist zwar kein prinzipieller Mythengegner, seine Position ist aber etwas engherzig.
Punkt für Blocher
Der Aussenseiter besticht rhetorisch
Nein, damit hatte man nicht gerechnet. Thomas Maissen, als Historiker ein Mann des geschriebenen Wortes, trumpft im Bellevue rhetorisch auf. Angriffslustig, spitz, schlagfertig kontert er Blochers gewohnt wortgewaltigen Ausführungen. Beim Publikum kommt er an: Maissen erntet mindestens gleich viel Szenenapplaus und Lacher wie der sehr viel erfahrenere Blocher, der durch Tausende Parteiversammlungen, Debatten, öffentliche Auftritte gestählt ist. Wegen des Überraschungseffekts: Punkt für den Aussenseiter, für Maissen.
Punkt für Maissen
Die Wurzel ohne Baum
In der Debatte über die Schlacht bei Marignano räumt Blocher ein, dass Neutralität nach der Schlacht von 1515 erst als «kleines Würzelchen» vorhanden war. Er will die Schlacht aber trotzdem als Zäsur sehen. Maissen greift das Bild gleich auf, weist immer wieder auf das nach Marignano weitergeführte Söldnerwesen hin und entgegnet Blocher zum Schluss: «Ihre Wurzeln haben einfach keinen Zusammenhang mit dem Baum.» Inhaltlich punktete Maissen, Blocher wirkte mit seinem Eingeständnis aber souveräner.
Punkt für Blocher
Blochers EU-Vorwurf zielt ins Leere
Immer wieder versucht Blocher seinen Kontrahenten zu diskreditieren. Mehrfach drängt er Maissen in die Ecke des vaterlandslosen Forschers: «Sie wollen ja sowieso in die EU.» Doch diese Hiebe laufen ins Leere. Maissen riecht die Finte, bleibt cool. Erst ganz am Schluss der Debatte, als es um die Zukunft der Schweiz geht, lässt der Geschichtsprofessor sich aufs politische Parkett locken. Und bleibt auch da souverän.
Punkt für Maissen
Einigkeit: Mehr Geschichte tut not
Sie waren selten, doch es gab sie: die Momente, in denen sich Blocher und Maissen einig waren. Ein solcher Punkt: Dass die lancierte Auseinandersetzung über die Schweizer Geschichte wertvoll ist. Im Lehrplan 21 werde das Fach Geschichte auf Oberstufenebene herabgesetzt, ärgerte sich Blocher. «Da bin ich ganz ihrer Meinung», schmunzelte Maissen.
Punkt für Maissen
Die fremden Richter von Lausanne
Bei der Debatte um den Bundesbrief von 1291 punktete der Historiker. Nachdem Blocher die Abkehr von fremden Richtern aus dem Text zitierte, konterte Maissen: «Sind die Urner dem Bundesbrief untreu geworden, weil sie ein Bundesgericht in Lausanne akzeptierten?»
Unentschieden
Maissen kennt die Fakten aus dem Effeff
Klar, Faktenhuberei ist per se nicht prickelnd. Doch sie gehört zum Streit um die Geschichte wie das Schwert zur Rüstung. Und eines wird im Hotel Bellevue klar: Die Fakten, das ist die Domäne von Thomas Maissen. Verschiedentlich kann er Blocher auf kleinere Fehler in dessen Argumentation hinweisen. Das macht einen souveränen Eindruck. Immerhin: Blocher gibt den lernwilligen Studenten – und beweist damit Format.
Punkt für Maissen