Betrachtet man das Abstimmungsverhalten im Nationalrat, fällt auf, dass Mitglieder der FDP-Fraktion besonders häufig von der Parteilinie abweichen. Oder wie der St. Galler FDP-Nationalrat Walter Müller – notabene der grösste Abweichler seiner Partei – erklärt: «Natürlich gibt es und soll es auch Abweichungen von der Parteilinie geben, wenn man eigene Grundsätze hat. Denn derentwegen wurde man vom Volk gewählt, und letztlich ist man nur dem verpflichtet.»
BLICK hat alle Abstimmungen der ersten Halbzeit der aktuellen Legislatur analysiert und ausgewertet, wie oft die jeweiligen Nationalrätinnen und Nationalräte nicht mit der Mehrheit der eigenen Fraktion stimmten.
An der Spitze der Abstimmungs-Fremdgeher stehen zwei Angehörige der CVP-Fraktion, Marianne Streiff-Feller und Maja Ingold, sowie Roberta Pantani aus dem Tessin, die zur SVP-Fraktion gehört. Die ersten beiden sind aber Mitglieder der EVP und als solche der CVP-Fraktion angehörig, während Pantani eigentlich aus der Lega dei Ticinesi kommt, was die Abweichung von der Fraktionslinie erklärt. Streiff-Feller stimmt übrigens häufiger im Sinne der SP-Fraktion als ihrer eigenen.
Die FDP ist an der Spitze
Die nächsten drei Plätze gehen an Walter Müller, Hans-Ulrich Bigler und Philippe Nantermod, allesamt FDP-Mitglieder. Eine Erklärung bei Müller, der übrigens sehr gerne mit der SVP-Fraktion stimmt, könnte sein, dass er als Bauer mit dieser Fraktion auch gewisse Berührungspunkte hat. Früher war die CVP die Abweichlerpartei erster Güte. Das hat sich aber seit dieser Legislatur geändert, seit die Partei erstens eine aktivere Fraktionsleitung, und zweitens ein neues Fraktionsreglement eingeführt hat.
Generell stimmen die Fraktionen aber geschlossener ab als früher. Für die Politikwissenschaftlerin Sarah Bütikofer vom Institut für Politikwissenschaft an der Universität Zürich liegt die Hauptursache in der Polarisierung der Parteien: «Parteien beharren viel stärker auf ihrer Position und lassen sich weniger auf Kompromisse ein. Um sich in diesem Umfeld von anderen Parteien abzugrenzen, neigen sie eher dazu, geschlossen und geeint aufzutreten.»
Bei Abstimmungen zu Kernthemen, in denen die Partei eine klare, geeinte Haltung einnehmen und auch gegen aussen zeigen wolle, achte die jeweilige Fraktionsführung im Vorfeld darauf, die Mitglieder auf Kurs zu halten: «Obwohl es laut Bundesverfassung keinen Stimmzwang gibt, haben die Fraktionschefs die Möglichkeit, «sanften Druck» auszuüben». Mitglieder, von denen man wisse, dass sie bei einem Thema nicht auf Parteilinie seien, können zum Beispiel dazu angehalten werden, sich während solcher Abstimmungen nicht im Ratssaal aufzuhalten und somit nicht an den Abstimmungen teilzunehmen.
Und wer hält seiner Fraktion am meisten die Treue? Es sind dies die beiden GLP-Mitglieder Tiana Angelina Moser und Beat Flach, gefolgt von Martin Naef aus der SP.
Die Geschlossenheit der SP ist historisch bedingt
Politologin Bütikofer sagt, bei der SP liege es daran, dass die Partei auch schon früher immer aus einer Minderheitsposition heraus agieren musste: «Das erklärt die hohe Geschlossenheit, ohne die es der Partei schwerfallen würde, überhaupt Einfluss zu nehmen.» Hinzu komme, dass die Fraktion auch einfach homogener sei als andere. Bei kleineren Fraktionen wie den Grünen oder den Grünliberalen zum Beispiel sei es einfacher, die Mitglieder zu einen, auch weil diese in zentralen Fragen häufig nicht speziell unterschiedliche Positionen hätten. In grossen Fraktionen ist das laut Bütikofer schwieriger, da mit mehr Mitgliedern aus allen Landesteilen auch mehr Meinungen zusammenkommen.
Betrachtet man die Fraktionen einzeln, fallen einige Prominente auf. Der grösste Abweichler der SP ist beispielsweise der Berner Nationalrat und Unia-Chef Corrado Pardini. Der stimmt auffallend häufig mit der SVP-Fraktion, die gewisse protektionistische Ansichten im Bereich der Landwirtschaft und der Industrie teilt. Oder der Bündner CVP-Nationalrat Martin Candinas, der wie kein anderer seiner Fraktion treu bleibt. Ihm werden in der Wandelhalle Bundesrats- oder Parteipräsidentschaftsambitionen nachgesagt, was ein Grund für sein Stimmverhalten sein mag.
Martin Naef, von BLICK auf seine hohe Fraktionstreue angesprochen, ist überhaupt nicht überrascht: «Nach 26 Jahren in der SP, davon vier Jahre Präsident der Zürcher Kantonalpartei, hat man gelernt, im Zweifelsfall manchmal gegen eigene Bedenken und für die Partei zu stimmen.»
BLICK zeigt aus jeder Fraktion die treusten Parteisoldaten und die grössten Abweichler. Die Prozentzahl weist aus, wie oft ein Nationalrat mit seiner Fraktion abgestimmt hat.
FDP
Fraktionstreu:
Christian Lüscher GE 97,64%
Corina Eichenberger AG 97,13%
Beat Walti ZH 97,13%
Abweichler:
Walter Müller SG 89,40%
Hans-Ulrich Bigler ZH 89,47%
Philippe Nantermod VS 89,90%
SVP
Fraktionstreu:
Thomas Burgherr AG 98,68%
Yves Nidegger GE 98,42%
Walter Wobmann SO 98,41%
Abweichler:
Thomas Hurter SH 93,49%
Marco Chiesa TI 93,83%
Franz Ruppen VS 93,97%
CVP
Fraktionstreu:
Martin Candinas GR 97,61%
Viola Amherd VS 97,54%
Karl Vogler OW 97,49%
Abweichler:
Daniel Fässler AI 92,11%
Kathy Riklin ZH 92,41%
Dominique de Buman FR 93,06%
BDP
Fraktionstreu:
Duri Campell GR 98,30%
Martin Landolt GL 98,14%
Bernhard Guhl AG 97,14%
Abweichler:
Hans Grunder BE 90,11%
Urs Gasche BE 92,77%
Rosmarie Quadranti ZH 94,41%
Grüne
Fraktionstreu:
Sibel Arslan BS 99,39%
Balthasar Glättli ZH 99,31%
Regula Rytz BE 99,21%
Abweichler:
Daniel Brélaz VD 98,29%
Christine Häsler BE 98,36%
Lisa Mazzone GE 98,61%
GLP
Fraktionstreu:
Tiana Angelina Moser ZH 99,67%
Beat Flach AG 99,59%
Thomas Weibel ZH 99,50%
Abweichler:
Isabelle Chevalley VD 95,62%
Jürg Grossen BE 99,24%
Martin Bäumle ZH 99,24%
SP
Fraktionstreu:
Martin Naef ZH 99,53%
Claudia Friedl SG 99,45%
Martina Munz SH 99,40%
Abweichler:
Corrado Pardini BE 97,96%
Edith Graf-Litscher TG 98,40%
Jean Christophe Schwaab VD 98,51%
BLICK zeigt aus jeder Fraktion die treusten Parteisoldaten und die grössten Abweichler. Die Prozentzahl weist aus, wie oft ein Nationalrat mit seiner Fraktion abgestimmt hat.
FDP
Fraktionstreu:
Christian Lüscher GE 97,64%
Corina Eichenberger AG 97,13%
Beat Walti ZH 97,13%
Abweichler:
Walter Müller SG 89,40%
Hans-Ulrich Bigler ZH 89,47%
Philippe Nantermod VS 89,90%
SVP
Fraktionstreu:
Thomas Burgherr AG 98,68%
Yves Nidegger GE 98,42%
Walter Wobmann SO 98,41%
Abweichler:
Thomas Hurter SH 93,49%
Marco Chiesa TI 93,83%
Franz Ruppen VS 93,97%
CVP
Fraktionstreu:
Martin Candinas GR 97,61%
Viola Amherd VS 97,54%
Karl Vogler OW 97,49%
Abweichler:
Daniel Fässler AI 92,11%
Kathy Riklin ZH 92,41%
Dominique de Buman FR 93,06%
BDP
Fraktionstreu:
Duri Campell GR 98,30%
Martin Landolt GL 98,14%
Bernhard Guhl AG 97,14%
Abweichler:
Hans Grunder BE 90,11%
Urs Gasche BE 92,77%
Rosmarie Quadranti ZH 94,41%
Grüne
Fraktionstreu:
Sibel Arslan BS 99,39%
Balthasar Glättli ZH 99,31%
Regula Rytz BE 99,21%
Abweichler:
Daniel Brélaz VD 98,29%
Christine Häsler BE 98,36%
Lisa Mazzone GE 98,61%
GLP
Fraktionstreu:
Tiana Angelina Moser ZH 99,67%
Beat Flach AG 99,59%
Thomas Weibel ZH 99,50%
Abweichler:
Isabelle Chevalley VD 95,62%
Jürg Grossen BE 99,24%
Martin Bäumle ZH 99,24%
SP
Fraktionstreu:
Martin Naef ZH 99,53%
Claudia Friedl SG 99,45%
Martina Munz SH 99,40%
Abweichler:
Corrado Pardini BE 97,96%
Edith Graf-Litscher TG 98,40%
Jean Christophe Schwaab VD 98,51%