Heute denken viele, dass unsere Welt ohne Religion friedlicher wäre. Gegen diese Sichtweise wendet sich der Schweizer Philosoph Michael Rüegg mit seinem Buch «Krise der Freiheit», das ich letzte Woche im BLICK Talk dem SP-Nationalrat Cédric Wermuth geschenkt habe.
Trennung zwischen Staat und Religion
Gemäss Rüegg ist eine Religion dann gesund, wenn sie ihr Verhältnis zur politischen Macht geklärt hat und die Freiheit von Nichtgläubigen und Andersdenkenden vorbehaltlos toleriert. Dann dürfen Religionen auch in der Moderne absolute Wahrheitsansprüche vertreten, aber sie dürfen daraus keinen allgemeinen Geltungsanspruch erheben und müssen klar trennen zwischen Staat und
Religion, zwischen Macht und Moral. Die Politik erscheint in dieser Sichtweise als Werkzeug des Zusammenlebens, die man nicht zu einer Gesellschaftsmoral überhöhen oder als Konkurrenz zu den Religionen missbrauchen darf. Im Gegenteil ist die Verteidigung der Religionsfreiheit ein Ausweis für eine weltoffene Gesellschaft.
Politik ist Weltanschauung
«Nur dort, wo Menschen die Freiheit haben, zu glauben und zu sagen, was sie wollen, gibt es funktionierende Demokratien», schreibt Rüegg und nennt als Beispiele für totalitäre Systeme das islamische Kalifat und die sozialistische Diktatur. «Moral und Recht fallen dort zusammen
und begründen einen universalen Massstab, dem alle Menschen unterworfen werden. Politik ist nicht Werkzeug, sondern Weltanschauung. Hier zeigt sich schön, dass der religiöse Fundamentalismus und der atheistische Totalitarismus wesensverwandt sind. Sie respektieren beide nicht die Freiheit des Anderen.»
Einstehen für weltanschauliche Vielfalt
Radikale Ideen haben heute, als Antidepressivum gegen die Zumutungen der offenen Gesellschaft, ein erhöhtes Suchtpotenzial. Die Umwälzungen durch Globalisierung und Digitalisierung rufen Nationalisten, Populisten und religiöse Verführer auf den Plan. Das sind Bedrohungen, denen wir nicht ohne ein gelassenes Verhältnis zur Religion begegnen können, nicht ohne eine klares Einstehen für die weltanschauliche Vielfalt – bei gleichzeitiger Loyalität zum Rechtsstaat. Wenn das gelingt, kann wieder deutlich werden, dass der säkulare Staat und Religion keine unversöhnlichen Gegensätze sind, sondern sich gegenseitig bedingen. Oder wie Jesus Christus es formuliert hat: «Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.»
Giuseppe Gracia (50) ist Schriftsteller und Medienbeauftragter des Bistums Chur. Er ist verheiratet und Vater von zwei Kindern. In seiner BLICK-Kolumne, die jeden zweiten Montag erscheint, äussert er persönliche Ansichten.