Delhi ist für Autofahrer ein Albtraum – normalerweise sind die Strassen hier bis tief in die Nacht hinein verstopft. Doch der Konvoi von Doris Leuthard prescht mühelos durch die Hauptstadt. Polizisten riegeln sämtliche Querstrassen ab, entlang unserer Route steht alle paar Meter ein Soldat mit Maschinenpistole. Dicht an dicht fahren die schwarzen Mercedes-Limousinen, die anstelle eines Kennzeichens das Emblem des indischen Präsidenten tragen, zudem Minibusse für Delegationsmitglieder und Offroader für die bewaffneten Begleiter. Sogar ein Krankenwagen fährt mit. Schweizer Politiker sind diesen Aufwand nicht gewohnt. So reist sonst nur der US-Präsident!
Doch genau dieses aufwendige Prozedere sieht das indische Protokoll für solche Besuche vor. Die Bundespräsidentin war am Donnerstag und Freitag Staatsgast der Republic of India. Es ist die höchste Form von Ehrerweisung in der exakt 70 Jahre alten Demokratie. Vor dem Präsidentenpalast stehen mehr als 300 Soldaten stramm. Der Schweizer Militärattaché strahlt und macht Handyfotos, der Schweizerpsalm ertönt in eigenwilliger Interpretation. Gemächlich, aber hoch konzentriert schreitet Leuthard die Ehrengarde ab. Später wird sie sagen: «Das ist ein unglaublich emotionaler Moment!»
Staatspräsident Ram Nath Kovind (71) und Premierminister Narendra Modi (66) empfangen die Bundespräsidentin und ihre Delegation aus Staatssekretären, Diplomaten sowie mehr als 30 Wirtschaftsführern, darunter ABB-Präsent Peter Voser (59), SBB-Präsidentin Monika Ribar (57), Stadler-Rail-Chef Peter Spuhler (58), der Patent-Chef von Roche, der Länderchef von Nestlé und viele mehr.
Modi macht die Indiens Wirtschaft fit für die Zukunft
Es ist das erste Mal, dass Modi überhaupt Wirtschaftsvertreter empfängt. Der Premier ist der Sohn eines Chai-Wallah, eines Teeverkäufers aus der Provinz. Viele Inder bewundern ihn, weil er es von ganz unten nach ganz oben geschafft hat. Seit drei Jahren macht Modi die Wirtschaft des Milliardenvolkes fit für die Zukunft, sein Motto lautet: «Make in India.» Das Land soll zum Produktionsstandort für die ganze Welt werden.
Trotz der riesigen Unterschiede (siehe Grafik) können Indien und die Schweiz voneinander profitieren. Der Subkontinent ist 80-mal so gross wie die Schweiz und hat 150-mal mehr Einwohner. Economiesuisse-Präsident Heinz Karrer (58): «Nur schon die Grösse macht Indien zu einem wichtigen Markt. Zudem sind Indien und China die Lokomotiven des Wirtschaftswachstums.» Unternehmern rät er jedoch: Sucht euch Partner!
Die Schweizer Eisenbahnbauer machen vor, wie es geht: Molinari Rail aus Winterthur ZH liefert gerade Elektrokomponenten für 1000 indische Lokomotiven. Stadler Rail bewirbt sich um den grössten Auftrag ihrer Firmengeschichte: Es geht um 5000 Triebwagen und Waggons sowie um drei Werkstätten im Wert von beinahe acht Milliarden Franken. Allein hätte Stadler Rail keine Chance. Deshalb hat das Thurgauer Unternehmen seine Offerte zusammen mit einem indischen Partner vorgelegt.
Der perfekte Türöffner
Für Stadler-Chef Peter Spuhler ist der Staatsbesuch der perfekte Türöffner: «Bundespräsidentin Leuthard kann einiges bewirken.» Zwar laufe die Ausschreibung nach völlig klaren Kriterien. Doch: «Dass ich das Projekt Premierminister Modi vorstellen konnte, war eine grosse Ehre! Und so hat er den Namen Stadler Rail immerhin schon mal gehört.»
Die Schweiz und Indien sind Eisenbahnländer, wenn auch in unterschiedlicher Grössenordnung: Das Gleisnetz der indischen Staatsbahn ist 65'000 Kilometer lang, das der SBB lediglich 3172 Kilometer, die Indian Railways beschäftigen 1,3 Millionen Mitarbeiter und befördern acht Milliarden Passagiere pro Jahr – also mehr als die Weltbevölkerung! Doris Leuthard erklärt dem hiesigen Eisenbahnminister Suresh Prabhu (64) voller Stolz, die Schweiz verfüge dafür über das dichteste Netz und den längsten Tunnel der Welt.
Prabhu will seine Eisenbahn modernisieren: mit neuen Zügen, einer grossflächigen Elektrifizierung, umfassenden Sicherheitsinvestitionen. Denn das Netz ist marode, statistisch gesehen gibt es täglich 40 Tote. Die meisten Opfer sterben, weil sie vom Dach hoffnungslos überfüllter Züge fallen oder unter den Zug geraten. Auch schwerste Entgleisungen oder Kollisionen sind an der Tagesordnung.
Auch die ETH möchte mitwirken
Soll Indiens Wirtschaft wachsen, braucht das Land eine funktionierende Bahn – und die Schweiz will möglichst vorne mit dabei sein. Auch die ETH Zürich möchte mitwirken: Im Beisein von Premier Modi unterschrieb ETH-Rektorin Sarah Springman (60) eine Absichtserklärung für die technische Unterstützung beim Bau von Brücken und Tunnels.
Die Pharmaindustrie hat es da erheblich schwerer. Indien besitzt eine mächtige Generikaindustrie, die sich kaum um den Schutz internationaler Patente kümmert – einer der Gründe dafür, dass ein Freihandelsabkommen mit Indien seit Jahren nicht vom Fleck kommt. Zu weit liegen die Interessen der beiden Länder auseinander.
Ein Meeting jagt das andere, Minister geben sich im Luxushotel Taj Mahal die Klinke in die Hand. Der Optimismus, dass die Zukunft besser sein wird als die Gegenwart, ist spürbar. Der Schweizer Botschafter Andreas Baum (54) warnte allerdings bereits während der Begrüssung: «Es gibt verschiedene Indien. Wir werden das boomende sehen. Aber in den Spitälern sterben nach wie vor Kinder.»
Einen kleinen Eindruck vom indischen Alltag erhielt Leuthard beim Abstecher zu einem Schulprojekt mit dem Namen «Hope» (Hoffnung). Drei junge Frauen berichten von ihrem Schicksal. Eine junge Alleinerziehende hat die Nase voll von Männern und will sich nur noch um ihr Baby kümmern. Worauf Leuthard erwidert: «Jeder braucht Liebe, auch Sie. Irgendwann ist Ihr Kind gross. Sie müssen auch für sich selber schauen.»
Die Schweiz geniesst grossen Respekt
Die Bundespräsidentin ist bei diesem Besuch Diplomatin, Wirtschaftsförderin und Lebensberaterin in einer Person. Überall spürt sie: Die Schweiz geniesst in Indien Respekt, sogar Bewunderung. Was auch damit zu tun hat, dass die Regierung in Bern schon im Jahr der Staatsgründung 1947 aufs richtige Pferd gesetzt hat: Als eines der ersten Länder der Welt gewährte sie Indien die Anerkennung als selbständiger Staat, gleich nach der Unabhängigkeit von Grossbritannien. Und bald darauf kam der schweizerisch-indische Freundschaftsvertrag zustande, in dem die ungleichen Staaten einander für immer «Frieden und unverbrüchliche Freundschaft» versprechen.
Leuthard eröffnete am Freitagabend die Feierlichkeiten zum 70-jährigen Bestehen dieses Vertrags mit den Worten: «Wir sind beide Demokratien und wir glauben an die Kraft des Gesetzes – die beste Voraussetzung, um das Leben der Menschen zu verbessern. Wir werden gemeinsam zusammenstehen.»
Von der Botschaft geht es mitten in der Nacht zum letzten Mal im rasenden Konvoi durch Delhi: 48 intensive Stunden eines mit Begegnungen vollgepackten Staatsbesuchs sind vorbei. Um 1.45 Uhr Ortszeit hebt der Swiss-Flug nach Zürich ab.
Interview: Christian Dorer
Frau Bundespräsidentin, Sie waren vor 30 Jahren als Touristin in Indien. Wie hat sich das Land verändert?
Doris Leuthard: Damals ging ich natürlich nicht in die noblen Hotels. Mir haben sich die vielen Bettler eingeprägt. Da hat sich viel verbessert, auch wenn es nach wie vor Armut gibt.
Was bekommen Sie davon mit?
Wir könnten eine Reise machen von Regierungssitz zu Regierungssitz. Das ergäbe aber ein falsches Bild und würde nicht der Tradition der Schweiz entsprechen. Noch immer leben 400 bis 600 Millionen Inder unter prekären Verhältnissen. Wir haben darum auch ein Sozialprojekt besucht, das Kindern aus armen Familien hilft. Ich habe mit Mädchen gesprochen, die unter schwierigen Umständen aufwachsen. In der Schweiz hätten sie ganz andere Möglichkeiten.
Zu Beginn des Staatsbesuchs schritten Sie die Ehrengarde mit Hunderten Soldaten ab. Was ging Ihnen da durch den Kopf?
Das sind emotionale, ehrenvolle Momente. Davon darf man sich aber nicht zu sehr leiten lassen, ich habe ja eine Funktion. Es zeugt von viel Respekt, dass die Schweiz von einem grossen Staat so empfangen wird. In Indien werden wir geschätzt und bewundert. In der Schweiz geht manchmal unter, wie gut das meiste bei uns läuft, wegen kleinsten Dingen gibt es manchmal ein Gschtürm. Wir sollten uns bewusst sein, was wir in der Schweiz haben!
Indien hat 150-mal mehr Einwohner als die Schweiz. Wie kann die kleine Schweiz das wirtschaftlich nutzen?
So klein sind wir nicht. Die Schweiz ist der siebtgrösste Handelspartner und der elftgrösste Investor in Indien. Unsere Unternehmen forschen und entwickeln bei uns, die Produktion aber ist zu teuer. Und da steht Indien im Wettbewerb mit dem noch günstigeren Bangladesch oder Sri Lanka.
Indien bietet auch hoch qualifizierte Jobs. Wie gross ist die Gefahr für den Werkplatz Schweiz?
Ich sehe das nicht als Gefahr. Wir sind seit Jahrzehnten ein teureres Produktionsland als der Rest der Welt. Und trotzdem hatten wir mit jeder industriellen Entwicklung mehr Arbeitsplätze als zuvor. Wir müssen uns dem Wettbewerb stellen und Nischen suchen.
Peter Spuhler, Chef von Stadler Rail, buhlt um einen Grossauftrag. Konnten Sie behilflich sein?
Es hilft, Teil der Schweizer Delegation zu sein. Die Unternehmen können ihre Projekte präsentieren. Premierminister Modi ist ein Fan von Eisenbahnen und will den öffentlichen Verkehr fördern. Stadler Rail hat ein gutes Produkt und einen indischen Partner. Das ist strategisch sehr wichtig.
Probleme gibts mit dem Patentschutz. Was tun Sie, damit Medikamente nicht kopiert werden?
Schwierig! Indien hat einen gigantischen Generikamarkt und stellt sich auf den Punkt, dass es den WTO-Standard einhält. Wir möchten eine Präzisierung der entsprechenden Regeln. Zudem wird das Recht nicht mit Konsequenz durchgesetzt. In China war das lange Zeit auch so. Dann hat die Regierung durchgegriffen. Dieses Beispiel habe ich bei dem Staatsbesuch eingebracht.
Was würde uns ein Freihandelsabkommen mit Indien bringen?
Die Zölle betragen im Durchschnitt zehn Prozent. Das ist viel. Wenn diese wegfallen, könnte die Maschinenindustrie profitieren, die ohnehin schon unter dem starken Franken leidet.
Seit zehn Jahren kommt es nicht zum Abschluss. Wo harzt es?
Indien hat innert neun Jahren den dritten Minister, der dafür zuständig ist. Zu einem gewissen Teil müssen wir wieder von vorne beginnen. Zudem gab es eine Periode, in der Steuerfragen im Vordergrund standen. Und wir geben beim Patentschutz nicht nach. Da werden wir auch hart bleiben – wir müssen unsere Interessen vertreten.
Man spürt Ihre Freude an solchen Auslandsreisen. Geniessen Sie es, solange Sie noch können?
(Lacht) Ich habe das schon immer gern gemacht und werde es auch bis zum letzten Tag tun. Das gehört zu meinem Beruf.
Interview: Christian Dorer
Frau Bundespräsidentin, Sie waren vor 30 Jahren als Touristin in Indien. Wie hat sich das Land verändert?
Doris Leuthard: Damals ging ich natürlich nicht in die noblen Hotels. Mir haben sich die vielen Bettler eingeprägt. Da hat sich viel verbessert, auch wenn es nach wie vor Armut gibt.
Was bekommen Sie davon mit?
Wir könnten eine Reise machen von Regierungssitz zu Regierungssitz. Das ergäbe aber ein falsches Bild und würde nicht der Tradition der Schweiz entsprechen. Noch immer leben 400 bis 600 Millionen Inder unter prekären Verhältnissen. Wir haben darum auch ein Sozialprojekt besucht, das Kindern aus armen Familien hilft. Ich habe mit Mädchen gesprochen, die unter schwierigen Umständen aufwachsen. In der Schweiz hätten sie ganz andere Möglichkeiten.
Zu Beginn des Staatsbesuchs schritten Sie die Ehrengarde mit Hunderten Soldaten ab. Was ging Ihnen da durch den Kopf?
Das sind emotionale, ehrenvolle Momente. Davon darf man sich aber nicht zu sehr leiten lassen, ich habe ja eine Funktion. Es zeugt von viel Respekt, dass die Schweiz von einem grossen Staat so empfangen wird. In Indien werden wir geschätzt und bewundert. In der Schweiz geht manchmal unter, wie gut das meiste bei uns läuft, wegen kleinsten Dingen gibt es manchmal ein Gschtürm. Wir sollten uns bewusst sein, was wir in der Schweiz haben!
Indien hat 150-mal mehr Einwohner als die Schweiz. Wie kann die kleine Schweiz das wirtschaftlich nutzen?
So klein sind wir nicht. Die Schweiz ist der siebtgrösste Handelspartner und der elftgrösste Investor in Indien. Unsere Unternehmen forschen und entwickeln bei uns, die Produktion aber ist zu teuer. Und da steht Indien im Wettbewerb mit dem noch günstigeren Bangladesch oder Sri Lanka.
Indien bietet auch hoch qualifizierte Jobs. Wie gross ist die Gefahr für den Werkplatz Schweiz?
Ich sehe das nicht als Gefahr. Wir sind seit Jahrzehnten ein teureres Produktionsland als der Rest der Welt. Und trotzdem hatten wir mit jeder industriellen Entwicklung mehr Arbeitsplätze als zuvor. Wir müssen uns dem Wettbewerb stellen und Nischen suchen.
Peter Spuhler, Chef von Stadler Rail, buhlt um einen Grossauftrag. Konnten Sie behilflich sein?
Es hilft, Teil der Schweizer Delegation zu sein. Die Unternehmen können ihre Projekte präsentieren. Premierminister Modi ist ein Fan von Eisenbahnen und will den öffentlichen Verkehr fördern. Stadler Rail hat ein gutes Produkt und einen indischen Partner. Das ist strategisch sehr wichtig.
Probleme gibts mit dem Patentschutz. Was tun Sie, damit Medikamente nicht kopiert werden?
Schwierig! Indien hat einen gigantischen Generikamarkt und stellt sich auf den Punkt, dass es den WTO-Standard einhält. Wir möchten eine Präzisierung der entsprechenden Regeln. Zudem wird das Recht nicht mit Konsequenz durchgesetzt. In China war das lange Zeit auch so. Dann hat die Regierung durchgegriffen. Dieses Beispiel habe ich bei dem Staatsbesuch eingebracht.
Was würde uns ein Freihandelsabkommen mit Indien bringen?
Die Zölle betragen im Durchschnitt zehn Prozent. Das ist viel. Wenn diese wegfallen, könnte die Maschinenindustrie profitieren, die ohnehin schon unter dem starken Franken leidet.
Seit zehn Jahren kommt es nicht zum Abschluss. Wo harzt es?
Indien hat innert neun Jahren den dritten Minister, der dafür zuständig ist. Zu einem gewissen Teil müssen wir wieder von vorne beginnen. Zudem gab es eine Periode, in der Steuerfragen im Vordergrund standen. Und wir geben beim Patentschutz nicht nach. Da werden wir auch hart bleiben – wir müssen unsere Interessen vertreten.
Man spürt Ihre Freude an solchen Auslandsreisen. Geniessen Sie es, solange Sie noch können?
(Lacht) Ich habe das schon immer gern gemacht und werde es auch bis zum letzten Tag tun. Das gehört zu meinem Beruf.