Maria Broder (94) trägt ihr schneeweisses Haar zu einem kunstvollen Dutt hochgesteckt. Die adrette Dame sitzt kurz nach 8 Uhr morgens am Frühstückstisch in ihrem Zuhause, im Zürcher Pflegezentrum Embrach, vor sich auf dem Tisch Konfibrot und Kafi.
«Ich hoffe, Ihre Frisur gefällt Ihnen heute, liebe Frau Broder», sagt Pflegefachfrau Bettina Beerli (32), beugt sich zur ehemaligen Servicekraft und hält liebevoll deren Hand. Trüge Bettina Beerli nicht die blaue Pflegeuniform, wäre es eine Szene zwischen liebender Enkelin und dankbarer Grossmutter.
Aber Bettina Beerli ist nicht die Enkelin von Maria Broder und ihrem Sitznachbarn, dem an Diabetes leidenden Bruno Lienhard (82). Trotzdem ist die Mutter zweier Kleinkinder an diesem Dienstagmorgen im August die wichtigste Bezugsperson für die Bewohner der Demenz- und Pflegestation.
«Schwanger?», fragt eine andere Bewohnerin und zeigt verwirrt auf den flachen Bauch von Bettina Beerli. «Nein, nein, das haben wir hinter uns», sagt diese. Die Tochter, Beerlis zweites Kind, ist mittlerweile acht Monate alt und Beerli seit gut einem Vierteljahr zurück auf ihrer Station. «Ich kenne meine Bewohner – und sie mich. Ich kann nicht genug betonen, wie wichtig es für mich als Pflegefachperson ist, über ihre Biografien Bescheid zu wissen», sagt Beerli. Gute Pflege sei darum mit Temporärmitarbeitern fast unmöglich.
Geringe Wertschätzung und viel Verantwortung
Und doch ist die Fluktuation ein grosses Branchenproblem. «Wenn ich von meinem Beruf erzähle, höre ich oft: Was? Du arbeitest mit Demenzkranken? Das könnte ich nie», sagt Bettina Beerli enttäuscht. «Solche Aussagen zeugen nicht grad von viel Wertschätzung. Ich gehe gern arbeiten, aber nicht, weil ich mich aufopfere.»
An diesem Morgen gehört zu ihrer Arbeit – nach dem Wecken, Blut abnehmen und aus dem Bett helfen – auch eine strenge Hand.
Denn Bettina Beerli muss aufpassen, dass Bruno Lienhard nicht zu viel Süsses isst – und den Weg in sein Zimmer auch mal zu Fuss und nicht nur im Rollstuhl antritt. Trotzig beisst der pensionierte Hilfsarbeiter in sein Brot und sagt mit Blick auf Bettina Beerli: «Ich kriege nur Light-Konfi, sie ist streng zu mir.»
Haare flechten, Hände halten, zuhören: Für all dies kann das Pflegezentrum Embrach der Krankenkasse keine spezifische Leistung berechnen. Hat ein Patient aber vom Arzt angeordnete Tarifstufe 7 – bräuchte also umfassende Hilfe bei der Mobilisation – müsste Bettina Beerli während der Beobachtungsphase jeden Schritt dieser «Betreuungsleistung» dokumentieren.
Und das klingt dann stark abgekürzt so: «Pflegeperson schneidet das Weggli in mundgerechte Stücke. Da Bewohner nicht selbständig isst, reicht ihm die Pflegeperson die Stücke einzeln in die Hand und führt diese unter verbaler Anleitung zum Mund. BW hat zittrige Hände und verschüttet Flüssigkeiten. Frühstück wird durch Pflegeperson vorbereitet, Bewohner wählt es aus.»
Pflegepersonal fordert mehr Entscheidungskompetezen
Bettina Beerli entscheidet selbst, ob Maria Broder Hilfe beim Essen braucht. Doch durch die ärztliche Unterschrift wird es eine angeordnete Massnahme. Ihre Chefin Marlies Petrig (53), Geschäftsleitungsmitglied des KZU Kompetenzzentrums Pflege und Gesundheit, klagt darum: «Es ist lächerlich. Das Pflegepersonal macht die ganze Arbeit, trägt die Verantwortung. Aber fürs Abnicken der eigenen Entscheidung muss ein Arzt her!»
Die Augenhöhe zwischen Ärzten und dem diplomierten Pflegefachpersonal stimme «auf Gesetzesstufe überhaupt nicht mehr», so Petrig. Man fühle sich von den Regelungen «oft gegängelt», obwohl im Alltag beide Gruppen konstruktiv zusammenarbeiten. Petrig: «So kann es nicht weitergehen, ich habe schon jetzt grosse Schwierigkeiten, gute Leute zu halten.»
Um Frauen wie Bettina Beerli ist Petrig darum mehr als nur froh: Die junge Mutter kehrte nach der sechsmonatigen Babypause in ihre leitende Funktion zurück – und das in Teilzeit und mit noch mehr Verantwortung.
85 Prozent der Pflegenden sind Frauen. Eine hauseigene Krippe helfe darum sehr, ihren Mitarbeitern die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu verbessern, sagt Petrig. Trotzdem seien die Hürden für neues Personal noch immer zu hoch. «Wir brauchen dringend neue Lösungen für Quereinsteiger. Ich verliere gute Leute, weil sie sich beispielsweise die Lebenshaltungskosten während des Studiums nicht leisten können.»
«Niemand will gewaschen werden, alle wollen Betreuung»
Es ist nun kurz nach 10 Uhr, seit gut drei Stunden ist Bettina Beerli auf der Station. Ist alles ruhig, setzt sie sich ins Büro. Formulare warten auf korrekte Bewirtschaftung. Die Türe aber bleibt offen, genauso wie ihre Ohren.
Es sei schon viel Papierarbeit, sagt Bettina Beerli, die berufsbegleitend den Master in Pflege abgeschlossen hat. «Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass ich zu viel am Computer sitze. Aber erst wenn ich meine Tätigkeiten niederschreibe, tauchen sie auf einer Rechnung auf. Zudem muss ich mich rechtlich absichern. Wir haben so viel Macht über die Bewohner. Und wenn ich beispielsweise seine Autonomie einschränke, muss ich das genau begründen.»
Im Pflegezentrum Embrach ist die Demenzstation sogenannt «weglaufgeschützt», also so gebaut, dass sich die Bewohner nicht verlaufen können. Alle sechs Monate wird der Pflegegrad jedes einzelnen neu beurteilt.
Ohne sie würde das Schweizer Gesundheitswesen zusammenbrechen. Doch das Schweizer Pflegepersonal ist unzufrieden. Darum hat der Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK) die Volksinitiative «Für eine starke Pflege» lanciert.
Sie fordert im Kern drei Dinge: eine Garantie, dass genügend Pflegefachpersonal ausgebildet wird, dass die Qualität der Pflege gesichert ist und dass die hohe Fluktuation in Pflegeberufen gestoppt wird.
Massnahmen hierzu sind unter anderem die Erhöhung des Ausbildungslohns, eine maximale Anzahl von Patienten pro Pflegefachperson und eine Finanzierung der Pflegeleistung entsprechend dem tatsächlichen Pflegeaufwand. Die Initiative sieht zudem vor, dass Pflegefachleute in Eigenregie Leistungen erbringen und diese direkt über die Krankenkasse abrechnen dürfen.
Bundesrat lehnt Pflegeinitiative ab – ohne Gegenvorschlag
Der Bundesrat hat die Pflegeinitiative ohne Gegenvorschlag zur Ablehnung empfohlen. Er will keiner Berufsgruppe eine Sonderstellung in der Verfassung einräumen. Handlungsbedarf sieht er trotzdem. Sozialminister Alain Berset (47) soll zusammen mit dem Wirtschaftsdepartement konkrete Massnahmen ausarbeiten, um die Situation der Pflegefachpersonen zu verbessern.
Jetzt liegt der Ball beim Parlament. Gesundheitspolitiker von SP, CVP und FDP zeigen sich offen für einen indirekten Gegenvorschlag auf Gesetzesstufe. (vfc)
Ohne sie würde das Schweizer Gesundheitswesen zusammenbrechen. Doch das Schweizer Pflegepersonal ist unzufrieden. Darum hat der Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK) die Volksinitiative «Für eine starke Pflege» lanciert.
Sie fordert im Kern drei Dinge: eine Garantie, dass genügend Pflegefachpersonal ausgebildet wird, dass die Qualität der Pflege gesichert ist und dass die hohe Fluktuation in Pflegeberufen gestoppt wird.
Massnahmen hierzu sind unter anderem die Erhöhung des Ausbildungslohns, eine maximale Anzahl von Patienten pro Pflegefachperson und eine Finanzierung der Pflegeleistung entsprechend dem tatsächlichen Pflegeaufwand. Die Initiative sieht zudem vor, dass Pflegefachleute in Eigenregie Leistungen erbringen und diese direkt über die Krankenkasse abrechnen dürfen.
Bundesrat lehnt Pflegeinitiative ab – ohne Gegenvorschlag
Der Bundesrat hat die Pflegeinitiative ohne Gegenvorschlag zur Ablehnung empfohlen. Er will keiner Berufsgruppe eine Sonderstellung in der Verfassung einräumen. Handlungsbedarf sieht er trotzdem. Sozialminister Alain Berset (47) soll zusammen mit dem Wirtschaftsdepartement konkrete Massnahmen ausarbeiten, um die Situation der Pflegefachpersonen zu verbessern.
Jetzt liegt der Ball beim Parlament. Gesundheitspolitiker von SP, CVP und FDP zeigen sich offen für einen indirekten Gegenvorschlag auf Gesetzesstufe. (vfc)
Haare binden, Händchen halten oder wissen, wie das Leben von Maria Broder aussah und ob sie Enkel hat: Für all diese Aspekte ihrer Arbeit gibt es kein Formular. «Es ist leider so: Niemand will gewaschen werden, alle wollen Betreuung. Aber die bezahlt uns niemand nach dem tatsächlichen Aufwand», klagt sie.
«Menschen mit Demenz verlieren sich»
Hinzu komme ein wahnsinniger Druck auf jeden Einzelnen. «Wir als Pflegepersonal haben eine so grosse Verantwortung. Doch wenn ich als Diplomierte alleine 60 Bewohner betreuen muss, bin ich nur am Feuerlöschen.» Beerli betont aber, dass dies im Pflegezentrum Embrach im Gegensatz zu anderen Institutionen nicht so sei.
Das Pflegezentrum Embrach gilt als vorbildlich, setzt pro Bewohner mehr Personal ein, als der Kanton Zürich vorschreibt. Doch gerade bei privaten, gewinnorientierten Einrichtungen sind es oft weniger. Die Pflegeinitiative fordert einen verbindlichen Wert – und das schweizweit.
Heute Morgen ist es ruhig auf der Station. Eine Bewohnerin strickt am Fenster, Tränen laufen über ihre Wange. In der Nacht hatte sie geschrien. Ja, die Nächte mit Frau P. seien eine Herausforderung, wird es in der täglichen Besprechung mit dem Stationsarzt, der sogenannten «Triage», dann heissen. «Frau P. zeigt mündliche Aggression. Können wir irgendetwas optimieren?», fragt Beerli dort. Später werden Frau P. neue Möbel, eine spezielle Rufmöglichkeit und eine angepasste Medikation verordnet.
«Menschen mit Demenz verlieren sich. Wir helfen ihnen, dass sie sich als Mensch wiederfinden», sagt Bettina Beerli. «Und dafür brauchen wir Zeit. Fachwissen und Herzblut haben wir.»