Das Dorf Gondo im Wallis. Vor zwanzig Jahren wurde es von einem Bergsturz zerstört. Heute leben noch 80 Menschen dort.
Blaue Schlumpffiguren standen aufgereiht auf dem Fenstersims des Hauses von Daiana Squarattis (42) Tante. Den Sims gibt es heute nicht mehr. So wie einen grossen Teil von Gondo, wo Daianas halbe Familie lebte.
Im Oktober 2000 regnete es im Wallis lange und stark. Daiana arbeitete als Kellnerin in Visp. Im Radio hörte sie Liveschaltungen aus Gondo. Plötzlich Funkstille. Dann war die Stimme des Gemeindepräsidenten, ihrem Onkel Roland, zu hören. Sie war voller Angst. «Kommt uns hier holen. Sofort.» Die Schutzmauer oberhalb von Gondo war gebrochen. Schlamm, Geröll und Bäume rissen eine Schneise der Verwüstung durchs Dorf.
Fast alle Schlumpffiguren der Tante hat man während der Aufräumarbeiten in der Schlammlawine gefunden. Den Vater und einen Onkel von Daiana nicht. 13 Menschen starben.
Was macht die Schweiz mit ihren Tälern?
Heute sitzt Daiana in einem von zwei Restaurants in Gondo, das rauschende Wasser der Doveria im Hintergrund. Sie blättert durch ein Buch, zeigt auf die Bilder der Zerstörung in Gondo. Die aktuellen Unwetter-Bilder zu sehen, die zerstören Häuser im Misox, die Schuttberge im Maggia-Tal, das mache etwas mit ihr.
Die Unwetter der letzten Woche haben die Schweiz schockiert, Menschenleben wurden betrauert. Plötzlich wurde infrage gestellt: Lohnt sich der Schutz besonders gefährdeter Täler noch? Und was hält die Menschen überhaupt in Gefahrenzonen, wieso leben sie dort?
Zuhause in der Gefahrenzone
Daiana hat viel verloren in jenem Oktober. Nur das Dorf hat sie zurückbekommen. Zurückzukehren war eine Erleichterung, sie wollte nicht mehr weg. Hier sei sie daheim, sagt sie.
80 Menschen leben heute noch in Gondo. Immer wieder haben sie zusammen über die Katastrophe gesprochen. Viel wurde getan, dass sie dort bleiben können. Das Dorf wurde wieder aufgebaut, der Steinschlagschutzdamm verbessert, ein Entwässerungssystem installiert. Trotzdem, ganz lässt sich die Gefahr nie bändigen. Gerade wurden die neuen Gefahrenkarten erstellt, einige Teile des Dorfes befinden sich noch immer in der mittleren Gefahrenzone.
«Wir leben in den Bergen. Ein Restrisiko gehört dazu», sagt Daniel Squaratti, der Gemeindepräsident von Gondo. Mit diesem Risiko lerne man zu leben, sagt Daiana. «Wenn man Angst hätte, könnte man nicht hier wohnen.»
Keine Furcht vor dem Berg
Etwa 100 Kilometer nordöstlich von Gondo gibt es für Fridolin Kundert (58) genauso wenig Zweifel. Angst hat er keine, er bleibt in Rüti, einem Dorf in den Glarner Alpen. Obwohl auch hier der bewegte Berg allgegenwärtig ist. «Es rumpelt immer mal wieder.» Barfuss steht Kundert bei seinem Hof und zeigt auf die Hänge, erzählt, wo, wann, was heruntergestürzt ist. Er spricht über die Berge wie über entfernte Verwandte.
Vor zwei Jahren wurde ein ganzer Teil von Rüti neu als rote Gefahrenzone eingeteilt. Im Nachbardorf Schwanden gab es vergangenen Sommer zwei Erdrutsche, knapp hundert Menschen mussten evakuiert werden.
Das mitanzusehen sei schwierig gewesen, sagt Kundert. Auch sein Stall befindet sich in einer roten Gefahrenzone. Vor 25 Jahren sind 100’000 Kubikmeter Gestein in Richtung Rüti gestürzt. Einer der Felsen donnerte nur knapp an Kunderts Stall vorbei. Er selbst war damals an einer Skilehrer-Ausbildung, seine Frau Sonja war allein in Rüti, gerade am Melken. Der Strom wurde gekappt, dem Nachbarn habe es den Stall weggetätscht. «Das war schlimm für sie.» Eineinhalb Monate mussten die Kunderts weg von Rüti, 20 Stück Vieh im Schlepptau.
Sich Sorgen machen, davon will Kundert aber nichts wissen. Im Sommer vor zwei Jahren war er in Frankreich in den Ferien, als ein Anruf gekommen sei. Er müsse seine Kühe evakuieren, die weiter hinten im Tal untergebracht waren. Es löse sich Geröll vom Berg. Nach Hause gekommen sei er deswegen nicht. Das kommt schon gut, habe er sich gesagt. Das ist es dann wirklich. «Wir haben nicht so viel Angst wie die Experten. Für diese Gefahren haben wir auch ein gewisses Gspüri.»
Ein pragmatisches Verhältnis zur Natur
Solange die Klimaerwärmung anhält, solange werden Evakuierungen zunehmen, sagte ETH-Professor David Bresch kürzlich in der «SonntagsZeitung». Er warf die Frage auf: Wollen wir Millionen von Franken ausgeben, um wenige Einfamilienhäuser zu schützen? Nicht nur das Gemeinwesen müsse sich dem stellen, sondern auch die Hausbesitzer. Man müsse sich ehrlich fragen: «Warum bin ich hier?»
Wenn man den Menschen in den Gefahrenzonen zuhört, scheint die Antwort sonnenklar. Sie sind dort zu Hause. Sie haben ein pragmatisches Verhältnis zur Natur. Wenn die Natur will, dann will sie. Das wissen sie aus Erfahrung. Ein Grund wegzugehen ist es nicht.
Für die Bewohner des Mittellands wirkt dieses Verständnis vielleicht etwas verklärt. Vor allem während dieses Sommers – mit jedem Wochenende kommt wieder eine neue Unwetterwarnung. Trotzdem: Daiana sagt, in Gondo sei sie am sichersten Ort der Welt. Für Fridolin ist sein Hof immerhin der sicherste Ort im Glarner Hinterland.
Bis die Katastrophe wirklich kommt, glaubt man der Gefahr vielleicht auch nicht. Selbst damals hat Daiana den Bildern der Zerstörung nicht ganz getraut. Erst als sie wieder im Dorf war, das meiste schon aufgeräumt, begriff sie, was passiert ist.
Die Kostenfrage im Zentrum
So fern die Kosten-Nutzen-Diskussion um den Schutz der Täler scheint, wenn man die Menschen dort besucht, sie ist nicht aus der Luft gegriffen. Schon heute steht sie im Zentrum von neuen Schutzmassnahmen.
Um die Rutschung bei Braunwald zu stoppen, die für den Bergsturz in Rüti gesorgt hat, wurde 2021 ein Entwässerungsprojekt für fast 30 Millionen Franken genehmigt. Und allein nach dem Erdrutsch in Schwanden hat die Gemeinde Glarus Süd, zu der auch Rüti gehört, einen Kredit von 5,6 Millionen Franken bewilligt, um das Dorf vor weiteren Murgängen zu schützen.
Für solche Schutzmassnahmen werden generell immer Kosten-Nutzen-Abklärungen gemacht, sagt Maurus Frei, Abteilungsleiter Naturgefahren beim Kanton Glarus. Mit den klimatischen Veränderungen werde erwartet, dass die Kosten für Schutzbauten steigen und damit ihre Kostenwirksamkeit sinkt.
Zwischen den Zeilen heisst das wohl: In Zukunft könnten Umsiedlungen vermehrt in Betracht gezogen werden, weil die Schutzmassnahmen zu teuer sind. Der Bund habe laut Frei ab 2025 eine umfassendere Unterstützung für Umsiedlungen in Aussicht gestellt. Eine vorsorgliche Umsiedlung hat es in Rüti schon gegeben.
Im Rutsch-Dorf Peiden
Einige Orte lassen sich ohnehin kaum retten. Um etwa die Rutschung in Peiden, eine Hangsiedlung in der bündnerischen Surselva zu stoppen, müsste man den Berg stabilisieren. Das Projekt würde einer Kosten-Nutzen-Analyse wohl nicht standhalten. Gerade mal 13 Seelen wohnen noch dort. Das wissen auch Reto (65) und Liliane (65). Vor fünf Jahren sind sie ins Rutsch-Dorf gezogen.
Das rutschende Fundament des Dorfes treibt nur manchmal Risse in die Alltagsidylle der Bewohner. «Im Haus ist alles schräg und krumm», sagt Liliane. Die Neigung der Tischplatte haben sie mit einem Holzkeil ausgeglichen. Die Kirche mitten im Dorf stand vor hundert Jahren noch rund 16 Meter weiter oben. Ein Bruch zieht sich durch die schneeweisse Fassade.
Eine akute Gefahr droht den Bewohnern nicht. In den 1930er-Jahren wurde Peiden aber beinahe evakuiert. Und schon damals gab es Umsiedlungen: Die Leute hatten die Option wegzuziehen, das Haus wurde ihnen abgekauft.
Für Reto ist die Rutschung wie ein Raubtier. «Sie ist einfach da, in der Gegend präsent.» Im Dorf witzelt man: Wenn man noch weiter abrutscht, sei man immerhin näher bei der Postautohaltestelle.
Die Schweiz hält zusammen
Reto hat selbst einmal in der Stadt gelebt. Sein Züridütsch wirkt in den Bündner Bergen ein wenig fremd. Die Diskussion um den teuren Schutz der Täler kann er nicht nachvollziehen. Auch in den Städten müsse man in Zukunft mehr Geld ausgeben, für den Schutz vor Hitze und Überschwemmungen. «Der Klimawandel trifft alle.» Und die Schweiz brauche ihre Täler, es gehe nicht nur um die Leute, die dort wohnen. «Wir transportieren Güter durch die Alpen, flüchten von der Stadt, gehen wandern, fahren Ski.»
Auch Daiana sagt: «Die Diskussion ist schlecht für den Zusammenhalt.» Die Schweizerinnen und Schweizer wüssten das. 74 Millionen Franken wurden nach dem Unglück in Gondo gespendet. Bei den Unwettern in Misox und im Maggia-Tal kamen täglich Spenden in Millionenhöhe zusammen. Die Solidarität ist gross.
Man könne eben nicht alles buchhalterisch abhandeln: «Das ist meine Heimat, auch wenn sie in der roten Zone ist. Und Heimatgefühl darf kosten.» Die Stärke des Volkes messe sich am Wohl der Schwachen, sagt sie. So stehe das auch in der Bundesverfassung.