Ja, bisweilen ist das bürgerliche Parlament nachsichtig, zeigt Verständnis für den Sünder, öffnet sein Herz für den reuigen Straftäter. «Der Richter soll wieder Ermessensspielraum haben», sagt SVP-Nationalrat Ulrich Giezendanner feierlich: «Das ist mir wichtig. Er soll die Schicksale sehen.» Nein, der SVP-Veteran meint nicht die Schicksale von Sozialhilfe-Betrügern, Drögelern oder Kaugummi-Dieben mit ausländischem Pass. Er und mit ihm 111 Kollegen der rechten Ratshälfte haben vielmehr Erbarmen mit Rasern.
Wer heute in der 30er-Zone mit 70 oder mehr Sachen daherbolzt und auf der Autobahn die 200 überschreitet, der gilt nicht nur jedem vernunftbegabten Menschen als Raser – sondern auch dem Gesetz. Er wird mit einem Jahr Gefängnis bestraft. Mindestens. Zwingend. Automatisch.
Es ist ungewohnt, dass sich Hardliner von rechts gegen Automatismen wehren. Als es um Ausschaffungen ging, führte die SVP gleich zwei Initiativ-Kämpfe für einen harten Automatismus. Auch wegen Bagatelldelikten. Ermessensspielraum für Richter? Lächerlich, hiess es da. Kuscheljustiz! Missachtung des Volkswillens!
Doch der Volkswille gilt nur von Fall zu Fall. Dabei wurde Via Sicura, das Strassensicherheits-Paket, vor allem dank der zurückgezogenen Raser-Initiative durchgesetzt. Dank dem Druck aus der Bevölkerung werden also seit 2013 gedankenlose oder betrunkene Raser härter angefasst. Was übrigens sofort Wirkung zeigte: Von 2013 bis 2015, so ein Bericht des Bundesrats, habe Via Sicura mindestens hundert Tote oder Schwerstverletzte verhindert. 2016 sanken diese Zahlen nochmals überdurchschnittlich.
73 Nationalräte wollten diese Erfolgsgeschichte weiterführen. 112 Nationalräte haben bereits genug. Statt an gerettete Schicksale oder an die Schicksale jener, die totgefahren wurden, denken sie an die Raser-Schicksale.
Der Bundesrat, so beschlossen sie gestern, solle die Mindeststrafe streichen und die Mindestdauer für Führerausweis-Entzug reduzieren. Zudem soll die Rückgriffspflicht der Versicherungen wieder zu einem deutlich harmloseren Rückgriffsrecht werden.
Da fragt man sich schon, für wen hier Politik gemacht wird. Sind hundert gerettete Leben zu wenig? Waren die Hunderte verlorener Leben davor nicht genug? Vollends unbegreiflich ist, dass die Ratsmehrheit die Entwicklung technischer Hilfsmittel wie Fahrtenschreiber oder Alkohol-Fahrsperren explizit abwürgt. Der Bundesrat müsse darauf verzichten, heisst es. Das Parlament gibt Gas. Wer dabei unter die Räder kommt, hat Pech gehabt. Wie schnell die Toten der Strasse wieder vergessen gingen!