Die Sozialdemokratie will zurück zum Klassenkampf. So jedenfalls tönt es aus der SP-Geschäftsleitung. Auch Alexander Tschäppät (64) sieht die Gefahr, dass ein Teil der Menschen im Land den Anschluss verliert. Aber der Berner Stadtpräsident wird Ende Jahr selber ohne sein wichtigstes Amt dastehen. Kann er dann noch für irgendjemanden kämpfen? SonntagsBlick besuchte ihn ein letztes Mal im schmucken Erlacherhof im Herzen «seiner» Stadt.
SonntagsBlick: Herr Tschäppät, Ihre SP spricht von Klassenkampf und Überwindung des Kapitalismus. Gewinnt sie so die Büezer zurück?
Alexander Tschäppät: Ich bezweifle, dass Begriffe wie Klassenkampf noch verstanden werden. Aber in der Sache hat die SP recht. Es ist nicht alles Gold, was glänzt in der Schweiz. Ein Teil der Menschen droht abgehängt zu werden. Stagnierende Löhne, steigende Mieten und Krankenkassenprämien: Der unteren Mittelklasse bleibt Ende Monat kaum noch was übrig. Und die Firmen zahlen immer weniger Steuern. Kein Wunder, haben viele die Nase voll von Globalisierung und Freihandel. Es ist eine ursozialdemokratische Pflicht, uns für diese Leute einzusetzen – selbst wenn sie uns nicht wählen.
Zwölf Jahre lang waren Sie Stadtpräsident in Bern. Wie viel Macht hat ein Stapi?
Macht ist der falsche Begriff. Ein Einzelner hat nie viel Macht. Ich habe eine Ausgabenkompetenz von 5000 Franken. Die Stadt Bern ist da sehr rigoros. Aber es gibt andere Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen.
Und die wären?
Du kannst als Stapi ein politisches Geschäft von Anfang an in eine bestimmte Richtung lenken. Du kannst das Auswahlverfahren bei der Besetzung von wichtigen Posten steuern. So kann man das Geschehen beeinflussen. Das berühmte Wasserspiel auf dem Bundesplatz habe ich nicht im Alleingang verfügt. Doch ich habe es so aufgegleist, dass es auch durchkam. Man muss einfach mit den richtigen Leuten sprechen. Das macht dieses Amt auch zum faszinierendsten politischen Job.
Wie meinen Sie das?
Als Stadtpräsident stehe ich im ständigen Austausch mit der Bevölkerung. Wenn ich in den Bus steige, bekomme ich sofort mit, wenn ich etwas falsch gemacht habe. Man kennt mich, spricht mich an. Bis ein Bundesrat merkt, was von seinen Gesetzen tatsächlich beim Volk ankommt, geht es ewig. Lokalpolitik ist da viel direkter. Ich sehe das Produkt täglich.
Das kann auch anstrengend sein.
Ich werde schneller müde. Wer so lange in einem Amt ist, zeigt Abnutzungserscheinungen, klar.
Wie äussert sich das?
Ich brauche mehr Zeit, um mich zu erholen. Ich brauche viel Schlaf, lieber sieben als sechs Stunden. Spätestens um elf bin ich im Bett. Viele Leute kommen mit ihren Sorgen direkt zu mir – das ist schön, aber eben auch anstrengend.
Keine Angst, dass Sie Ihren Einfluss vermissen werden?
Sicher. Aber das Aufhören erleichtert manches. Ich bin ein Sensibelchen, kann schnell einmal nicht schlafen. Das ist meine Schwäche. Ich freue mich daher, mehr Zeit für mich zu haben. Jedes Mal, wenn es in der Reitschule kracht, bin ich schuld. Daran, dass YB nicht Meister wird, wahrscheinlich auch. Das wird mir nicht fehlen.
Sie fühlen sich also mit 64 noch topfit.
Ach was, topfit: zwei neue Knie und zehn Kilo Übergewicht!
Was wird Ihnen fehlen?
Die Arbeit mit meinen Mitarbeitern, wir haben uns gern. Gestaltung, etwas in dieser Stadt bewegen zu können, Events aufzugleisen, Bauvorhaben voranzutreiben. Wenn ich nicht noch Nationalrat wäre, käme ich wohl richtig ins Grübeln.
Wollen Sie nun im Nationalrat aktiver werden?
Es heisst ja immer, ich mache als Parlamentarier zu wenig. Ich werde aber sicher nicht einfach anfangen, sinnlos Vorstösse einzureichen. Das ist doch nur ein Instrument, um sich als Politiker zu inszenieren.
Bleiben Sie über die Legislatur hinaus im Rat?
Gemäss Statuten müsste ich jedenfalls nicht zurücktreten. Noch ist nichts entschieden, klar ist aber auch: Ich war unter 80 Kandidaten der zweitälteste. Und die über 65-Jährigen sind im Parlament klar untervertreten. Dabei wird die Altersfrage immer wichtiger.
Der Vorwurf des Doppelmandats fällt nun aber dahin.
Einer der grössten Fehler der Städte ist es, diese Doppelmandate zu verbieten. Vieles, was im Bundeshaus entschieden wird, muss von den Gemeinden ausgelöffelt werden: Sozialpolitik, Migrationspolitik ... Es ist daher absolut falsch, dass die Städte keine Lobby im Parlament haben. Die Bauern sind da, die Touristiker – warum nicht die Städte, die das Gros der Bevölkerung repräsentieren?
In der Schweiz sind die Kantone die Wahlkreise.
Die Städte müssen sich überlegen, wie sie in die Räte kommen. Denkbar wäre zum Beispiel, dass Exekutivmitglieder, die in den Nationalrat gewählt werden, einen Teil ihrer städtischen Dossiers an Kollegen abgeben, also in der städtischen Exekutive nur noch ein Teilmandat ausüben. Die Städte müssen sich darum bemühen, dass ihre Exekutivmitglieder kandidieren.
Der Vorwurf der Ämterhäufung wäre damit vorprogrammiert.
Es ist ja nicht so, dass ich von meinen Nationalratsbezügen viel behalte, ich liefere 75 Prozent der Stadt ab. Und ich verdiene nicht mehr als meine Gemeinderatskollegen, nämlich 220'000 Franken.
Sie sollten also mehr verdienen?
Ich habe ja auch mehr repräsentative Aufgaben. Es sollte einen Unterschied geben, wenn man eine andere Arbeit macht. Richtig Mühe habe ich damit, dass man mir diesen Lohn auch noch vorwirft! Wer reich werden will, geht nicht in die Politik.
Sie stehen kurz vor dem AHV-Alter, politisch kommen Sie aus einer Zeit vor der Political Correctness. Fühlten Sie sich manchmal unverstanden?
Ich würde es biblisch formulieren: Alles hat seine Zeit. Man kann nicht etwas von vor 40 Jahren mit dem moralischen Massstab von heute messen. Das geht nicht. Als ich in die Sonntagsschule ging, gab es noch ein Kässeli mit der Figur eines – korrekt formuliert – afrikanischen Buben, der mit dem Kopf nickte, wenn man Geld spendete. Niemand störte das damals.
Haben Sie den Sprung in die heutige Zeit verpasst?
Das Verrückte ist doch, dass ich immer besser gewählt worden bin. Die Leute wählen Menschen, die wie sie selber sind und auch mal Fehler machen. Der Anspruch, der Politiker müsse ein Heiliger sein, ist falsch. Man muss sich einfach entschuldigen, wenn man einen Fehler macht. Das verstehen die Leute.
Im linken Milieu spricht man von Ihnen als Macho.
Früher konnte der Mensch noch vergessen, heute haben wir das Internet, das nie vergisst. Sicher war ich nie ein Kind von Traurigkeit. Sicher bin ich keine graue Maus. Aber wer misst das? Ich habe mich gewiss nie verbogen. Vielleicht hätte ich mir das eine oder andere Mal besser auf die Zunge gebissen.
Die Kinder Ihrer möglichen Nachfolgerin Ursula Wyss gehen in eine Privatschule. Was hat das noch mit links zu tun, wenn nicht einmal mehr der Nachwuchs der Genossen in öffentlichen Lehranstalten unterrichtet wird?
Ich hätte mir das gar nicht leisten können, meine Kinder gingen in die öffentliche Schule. Aber ich verurteile niemanden. Sie und ihr Mann sind voll berufstätig. Die Privatschule bietet eine Ganztagesstruktur an, was bei den öffentlichen Schulen noch nicht der Fall ist – aber hoffentlich bald. Jeder soll das tun, was er will. Das war immer mein Credo.
Es ist eine Frage des Geldes, ob man es sich leisten kann. Ursula Wyss sagt selber, sie sei privilegiert.
Ja und? Das ist doch gut. Dafür zahlt sie auch viel Steuern. Und das ist richtig. Wer viel verdient, soll sich anständig an den Kosten der Allgemeinheit beteiligen. Ich habe diese Neidkultur nie verstanden – auch nicht die in meiner Partei. Wir wollen doch, dass es den Leuten besser geht, dass sie mehr Wohlstand haben. Dafür muss sich niemand schämen, solange die Steuern bezahlt werden. Ich selber war nie reich, habe aber immer gut gelebt – sich selbst kasteien oder nur auf den ökologischen Fussabdruck schauen, das liegt mir nicht.