Das Bekennerschreiben von Tobias R.* (†43) gibt einen Einblick in dessen kranke Psyche. Der Deutsche, der vergangene Woche im hessischen Hanau zehn Menschen und danach sich selbst erschossen hat, hatte offenbar Wahnvorstellungen, hegte zutiefst rassistisches Gedankengut und glaubte an Verschwörungstheorien. Auch die Attentäter, die vergangenes Jahr im deutschen Halle und dem neuseeländischen Christchurch mordeten, waren Anhänger von Verschwörungstheorien.
Die Schweiz blieb bislang von einer solchen Wahnsinnstat verschont. Auch hierzulande ist der Glaube an Verschwörungen aber verbreitet. Das zeigt der jüngste Antisemitismusbericht des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG) und der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA). Er kommt zum Schluss: Verschwörungstheorien über Jüdinnen und Juden sind in der Schweiz auf dem Vormarsch.
500 Vorfälle im Netz
Fast 200 Posts oder Kommentare, welche Verschwörungstheorien zum Inhalt haben, hat der SIG vergangenes Jahr registriert. Das ist der grösste Anteil der insgesamt 500 dokumentierten antisemitischen Vorfälle im Internet. Sie wurden dem SIG entweder via Antisemitismus-Meldestelle mitgeteilt oder durch ihn selbst erfasst. Eine andere erfasste Kategorie ist zum Beispiel die Holocaustleugnung.
Bereits im vergangenen Jahr machten Verschwörungstheorien den grössten Teil von Antisemitismus im Netz aus. Die Zahlen beziehen sich nur auf die Deutschschweiz; ein separater Bericht für die Westschweiz zeichnet aber ein ähnliches Bild.
Besonders in rechtsextremer Szene verbreitet
«Das ist sehr beunruhigend», sagt SIG-Generalsekretär Jonathan Kreutner (41). Laut Bericht bezieht sich inzwischen ein dominanter Anteil antisemitischer Äusserungen im Netz auf Verschwörungstheorien. Das sei deutlich mehr als noch vor einigen Jahren.
Derzeit besonders verbreitet ist die abstruse Theorie, welche die Zuwanderung als von Juden gesteuert darstellt. «Da viele Mitglieder der gewaltbereiten rechtsextremen Szene in der Schweiz an diese Theorie glauben und sie aktiv auf den sozialen Medien verbreiten», bestehe die Gefahr eines Anschlags von deren Anhängern auch in der Schweiz, hält der Bericht fest.
Politiker müssen Vorbilder sein
«Heute im digitalen Zeitalter verbreiten sich Verschwörungstheorien noch schneller als früher», stellt Dominic Pugatsch (37), Leiter der GRA, besorgt fest. Das liege einerseits an den sozialen Medien, in denen Hassreden generell sehr verbreitet sind. «Sie sind Echokammern, in denen man sofort Bestätigung von Gleichgesinnten bekommt», sagt Pugatsch. Aber auch schlechte Vorbilder – insbesondere Politiker, die selbst Verschwörungstheorien verbreiten – sind aus Sicht Pugatschs mit ein Grund für die Entwicklung.
Die Autoren des Antisemitismusberichts sehen dringenden Handlungsbedarf. «Politiker müssen sich ihrer Verantwortung bewusst sein», so Pugatsch. Aber auch jeder Einzelne sei gefordert. «Wichtig ist, mit Zivilcourage Konter zu geben, wenn man etwas offensichtlich Antisemitisches hört oder liest.» Auf Social-Media-Plattformen wie Facebook kann man User, die mit solchen Aussagen auffallen, zudem melden. «Es lohnt sich, davon Gebrauch zu machen. Wir stellen fest, dass gerade Facebook sehr viel konsequenter geworden ist.»
Politik wird aktiv
Dennoch reicht dies gemäss SIG-Generalsekretär Kreutner nicht. Er fordert, dass die Internetgiganten ein Zustelldomizil in der Schweiz haben müssen. Das würde mögliche Strafverfahren beschleunigen. Das Parlament hat einen entsprechenden Vorstoss bereits an den Bundesrat überwiesen, der nun eine Lösung finden muss.